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Gedanken einer Schauspielerin

Erste Halbzeit 2023: 48 zu 44!

TATORTE Erste Halbzeit 2023: 48 zu 44

Ja, der Titel erinnert an ein außer gewöhnlich torreiches Handballspiel, aber tatsächlich geht es wieder einmal um TATORTE, mit aktuellen Zahlen und zwei guten Nachrichten.

6-Gewerke-Check 2023 Sommerpause

Die 23 bis zur Sommerpause erstausgestrahlten TATORTE haben einen gerundeten 48 % (47,7 %) Regisseurinnenanteil und 44 % (44,1 %) Autorinnen. Nicht schlecht!

In der Montage machen Editorinnen 2/3 aus, in 15 TATORTEN waren sie allein verantwortlich, in dem Wien-Fall WAS IST DAS FÜR EINE WELT gab es ein Schnitt-Duo, Karina Ressler und Philipp Bittner.

Weniger vielversprechend sind die Zahlen für die übrigen Gewerke.

Besonders die 13 % Kamerafrauen enttäuschen, in diesem Gewerk sind immerhin ein Viertel der Hochschulalumni weiblich, aber sie werden für TATORTE nur selten engagiert. Lediglich drei standen in den ersten 23 TATORTEN 2023 hinter der Linse – Julia Jalnasow (München: SCHUTZMAßNAHMEN), Christiane Buchmann (Saarbrücken: DIE KÄLTE DER ERDE) und Katharina Diessner (Köln: WIE ALLE ANDEREN AUCH). Auffällig, kein Regisseur arbeitete mit einer Kamerafrau.

Und es gab nur eine Filmtonmeisterin: Claudia Mattai del Moro, die ebenfalls bei DIE KÄLTE DER ERDE arbeitete. Peter Tielker war bei vier TATORTEN Filmtonmeister (Dortmund, Kiel, Schwarzwald, Zürich), Je 3 mal Matthias Haeb (München, Köln, Bremen) und Wolfgang Wirtz (Franken, Stuttgart, Köln).

Die vier Komponistinnen – neben 26 Komponisten, die sich 21 Fälle teilten – waren Jessica de Rooij (HACKL), Martina Eisenreich (GAME OVER), Ina Meredi Arakelian (HOCHAMT FÜR TONI) und Jasmin Reuter (DIE NACHT DER KOMMISSARE). Nur mal so erwähnt, von Olaf Didolff stammt die Musik für drei TATORTE (2 x Köln und 1 x Bremen). Von René Dürbeck & Joachim Dohmen und auch Uwe Bossenz und Anton Feist  je zwei Filme für Dortmund bzw. Berlin.

Entwicklung Regie, Drehbuch, Kamera seit 2011

Die steigende weibliche Tendenz bei Regie und Drehbuch und den Stillstand in der Beteiligung von Kamerafrauen mit zwei Nulljahrgängen seit 2011 zeigt die nächste Abbildung.

Regie liegt seit 2016 (knapp) unter 20 % Frauen, was eine Zeitlang die Zielgröße der Degeto war. Seit 2020 hat sich dieser Wert verdoppelt. Eventuell hat der Fokus auf mehr Regisseurinnen seit 2016 zu einer Abkehr von Autorinnen geführt, was sich erst seit letztem Jahr wieder ändert.

Es bleibt abzuwarten, wann etwas bezüglich der Beteiligung weiblicher DoP (director of photography) unternommen wird, für mehr Teilhabe und Abbau des einseitig männlichen Blicks. Hierfür bietet sich mein kleiner aber feiner – und vor allem von Produktionen selbstständig umsetzbarer – Vorschlag #2von6 an (siehe auch Einfach und direkt: #2von6). Dazu später mehr, zunächst die

Frage der Drehbuchqualität

2018 war der TATORT-Autorinnenanteil mit 5,5 % auf dem absoluten Tiefpunkt seit 2011 angelangt. Im März 2019 unterschrieben über 80 Drehbuchautorinnen als „Initiative Tatort Drehbuch“ einen offenen Brandbrief an die ARD-Sender, in dem sie eine 50 %-Quote forderten und Mitarbeit an rundem Tisch anboten (siehe auch Warum arbeitet Ihr nicht mit Drehbuchautorinnen?). WDR-Programmdirektor Jörg Schöneborn antwortete darauf „Kreativität lässt sich nicht quotieren. Gutes Programm braucht am Ende immer eine Qualitätsentscheidung“ (Quelle).

Nur was ist Qualität bezogen auf ein TATORT-Drehbuch oder auch nur einen Pitch? Waren es  Qualitätsgründe, die 2018 zu fast ausschließlich TATORT-Drehbüchern von Männern führten? Oder Gewohnheit? Eine Gegenreaktion auf den steigenden Regisseurinnenanteil in dieser Reihe? Hatte keine Autorin etwas Brauchbares gepitcht, im Vorjahr oder 2016? Waren die Plots und Dialoge von Frauen zu schlecht? Und jetzt sind sie auf einmal gut genug und dürfen die TATORT-Qualitätsschranke passieren?

2018 gab es 37 TATORTE, die Drehbücher verantworteten 3 Autorinnen und 52 Autoren. Den Bremer Fall IM TOTEN WINKEL schrieb Katrin Bühlig, die Berlin TIERE DER GROßSTADT Beate Langmaack, und den Frankenfall ICH TÖTE NIEMAND schrieben Max Fäberböck und Catharina Schuchmann. Also 3 TATORTE mit Frauenbeteiligung, 35 mit Männerbeteiligung.

2023 sind es bislang 23 TATORTE mit insgesamt 15 Autorinnen und 19 Autoren, 7 Autorinnen schrieben alleine, zweimal zwei Frauen im Team und vier Frauen gemeinsam mit einem Kollegen. Also 13 der 23 Drehbücher mit Frauenbeteiligung und 14 mit Männerbeteiligung. 

Lässt sich sagen, woran diese deutliche Zunahme von Drehbuchautorinnen liegt? Nein. Wer weiß. Vielleicht ist es ein seltsamer Zufall, dass mehrere Redaktionen sich für Ideen von Frauen entschieden oder sogar Autorinnen initiativ beauftragt haben. Vielleicht zeigt mein Blog und meine Untersuchungen Wirkung, vielleicht der Brandbrief der Autorinnen 2019, vielleicht gesamtgesellschaftliche Diskussionen.

Ich kann nicht gut über die Qualität von TATORTEN schreiben, zum einen, weil ich sie selten gucke, und zum anderen, weil mein Krimigeschmack nicht unbedingt vom deutschen Fernsehen bedient wird. Gibt es überhaupt objektive Qualitätskriterien? Liest man TATORT-Kritiken wird hier gelobt und dort verrissen. Öffentlich-rechtliche Sender müssen ei–gent–lich nicht auf die Einschaltquote schielen, aber sie nutzen sie als Qualitätometer und bewerten danach die von ihnen beauftragten Projekte. Nun, auch diesbezüglich liefern Autorinnen keinen Anlass zur Beschwerde, ihre TATORTE kommen beim Einschaltmessungspublikum nicht schlechter an als die Fälle von Autoren.

Einschaltquoten

Die Einschaltquoten – die festhalten und hochrechnen, wie viele Personen in Messhaushalten eine Sendung eingeschaltet haben aber nicht, wie sie ihnen gefallen hat, wobei Geschmack nicht gleichbedeutend mit Qualität ist – lassen wie gesagt keine geschlechtsbedingten Hoch- oder Tiefwerte erkennen. Ich wage auch die Vermutung, dass ein Großteil des Publikums selten weiß, wer die Bücher geschrieben hat. Trotzdem ist es natürlich erfreulich in Hinblick auf eine „Qualitätsdiskussion“, dass die einzigen beiden TATORTE aus den ersten 20 Fällen in diesem Jahr mit mehr als hochgerechnet 10 Millionen Zuschauer:innen von Frauen (mit-)geschrieben wurden: Der Münster-Fall MAGICMOM (Buch Regine Bielefeld) vom 5. März und die Kölner ABBRUCHKANTE (Buch Eva Zahn und Volker A. Zahn) vom 26. März.

Aus Münster und Köln kommen auch sonst meist die publikumsstärksten TATORTE, egal wer Regie führt oder die Geschichte geschrieben hat und worum es in einem Fall geht (was aber keine Abwertung der genannten TATORTE sein soll!). Und so ist es ja eigentlich immer mit den TATORTEN. Wenn TATORT drauf steht wird es geguckt. Vielleicht in den sozialen Medien oder Kommentarspalten kritisiert und verrissen, aber nächsten Sonntag wird wieder eingeschaltet. Wieso musste dieses Format so lange eine Männerdrehbuchdomäne bleiben? Wovor hatte man Angst?

(Es kann übrigens sein, so suggeriert eine dpa-Meldung, dass die fetten TATORT-Jahre vorbei sind. Aber das nur nebenbei:

Besonders viel Publikums- und Medienecho erlebte der „Tatort“ in den Jahren 2014 und 2015. Damals wurde jede neue Folge im Schnitt von fast 10 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern im TV verfolgt. Zur Zeit scheint das Format etwas zu schwächeln, es schalten hochgerechnet weniger Menschen ein. „Die neuen „Tatort“-Krimis in der ARD haben 2023 im Schnitt gut eine halbe Million weniger als im Vergleichszeitraum 2022 verfolgt. (Quelle dpa, über TV Spielfilm))

TATORT-Entwicklung 2018 bis Sommer 2023 in 6 Gewerken

Wir sehen nochmals die besprochene Entwicklung bei Regie und Drehbuch, und die vier anderen Gewerke ohne große Veränderung:

Warum ist Ton so uninteressant für Frauen? Nur in drei der sechs Jahre gab es in TATORTEN eine Filmtonmeisterin, aber auch an den Hochschulen werden kaum mehr als 10 % Frauen ausgebildet. Das sind 15 Prozentpunkte weniger als im Kamerastudiengang. Seltsam.

Einmal sehr stark vereinfacht hochgerechnet: angenommen die Gründung von Pro Quote Regie 2014 hat einen Einfluss auf die Erhöhung des Regisseurinnenanteils, dann hat es sechs Jahre gedauert, bis die Regisseurinnen in dieser bestbezahlten Reihe bei 40 % angekommen sind. Und angenommen, der Tatort:Drehbuch-Brandbrief von 2019 hat zu mehr beauftragten Autorinnen geführt, dann waren das auch wieder vier bis fünf Jahre (ich gehe nicht davon aus, dass der Autorinnenanteil jetzt zur Sommerpause zum Jahresende weiter so hoch ist. Letztes Jahr sank er im Vergleichszeitraum von 40,6 % auf 32 %). Dann würde vielleicht – sehr optimistisch gedacht – eine ähnliche Entwicklung für den Kamerabereich noch mal vier Jahre dauern, für Ton ebenso (nicht zur 50 %-Marke, sondern lediglich zu den Werten 25 % bzw. 11 %, dies entspricht den Alumnianteilen). Also noch mal zehn Jahre oder mehr? Bis dahin sind die Münchner, Kölner und Wiesbadener Kommissare in Rente. Es ginge schneller mit #2von6.

#2von6 TATORTE Sommer 2023

Nachdem die Vergabepraxis der TATORT-Drehbücher fast nur an Autoren hoffentlich dauerhaft vom Tisch ist bleiben die Geschlechtergerechtigkeitsbaustellen Kamera und Komposition. Und Filmton.

Die nächste Abbildung zeigt die Überprüfung der TATORTE der ersten Jahreshälfte 2023 mit meinem Ansatz #2von6, der unter der Prämisse funktioniert, dass mindestens zwei der sechs Gewerke eine Frauenbeteiligung aufweisen. Eine Aufgabe, die – anders als eine TATORT-übergreifende Quote – jede Produktion für sich angehen kann, und die sobald alle sie erfüllen zu einer angemesseneren Filmfrauenrepräsentanz führt.

Acht der 23 TATORTE erfüllen #2von6 nicht (rosa schraffiert), und nein, die 1er und 3er Säulen gleichen sich nicht aus.

Schlusslicht ist der Dortmunder Fall DU BLEIBST HIER ohne jegliche Frauenbeteiligung. Dazu kommen sieben Filme mit nur einer beteiligten Frau, darunter je drei Mal als Autorin bzw. Editorin:

  • TOTES HERZ. Dresden. Drehbuch Kristin Derfler
  • LENAS TANTE. Ludwigsburg. Montage Sabine Garscha
  • DONUTS. Bremen. Montage Dora Vajda
  • NICHTS ALS DIE WAHRHEIT 1 und 2. Berlin. Drehbuch Katja Wenzel und Stefan Kolditz
  • LOVE IS PAIN. Dortmund. Regie Sabine Bernardi
  • HOCHAMT FÜR TONI. Franken. Montage Petra Scherer

Den Tatort DIE KÄLTE DER ERDE habe ich bereits mehrfach erwähnt. Ausgestrahlt wurde er am 29. Januar, beteiligt waren Regisseurin Kerstin Polte, Autorin Melanie Waelde, Kamerafrau Christiane Buchmann, Tonmeisterin Claudia Mattai del Moro und Editorin Julia Wiedmann. Die Musik stammte von Ephrem Lüchinger und Daniel Hobi.

Um welche TATORTE geht es nochmal?

Ab und zu kommt es zu Missverständnissen, weil manche Filmschaffende vom Produktionsjahr als Bezug ausgehen und mir dann – mal freundlicher mal heftiger – schreiben „Ich hab aber letztes Jahr bei einem Tatort mit einer Kamerafrau mitgearbeitet!“. Mag sein. Aber der Film wartet vielleicht noch auf seine Ausstrahlung.

Ich untersuche die in einem Jahr erstausgestrahlten TATORTE. Zum einen werden sie genauso auf der ARD-Webseite in ihrer praktischen Übersicht gelistet, aber mehr noch, nicht jeder Film wird in einem Kalenderjahr produziert. Und deshalb würde die Gegenüberstellung von TATORTEN nach Produktionsjahr/en etwas zu kompliziert. Vier Beispiele:

  • SCHUTZMAßNAHMEN. Produktionsjahre 2021 und 2022. Erstausstrahlung 1.1.23
  • DIE KÄLTE DER ERDE. Produktionsjahr 2022. Erstausstrahlung 29.1.23
  • SEILSCHAFT. Produktionsjahre 2021 – 2023. Erstausstrahlung 30.4.23
  • GAME OVER. Produktionsjahre 2022 und 2023. Erstausstrahlung 21.5.23

Zudem wird in der Regel nicht die Dauer der Stoffentwicklung berücksichtigt, die mehrere Jahre betragen kann und oft schon vor dem formalen Produktionsstart begann. Deshalb werde ich die untersuchte Gruppe weiter über den Erstsendetermin definieren.

Epilog

Gehen wir einmal davon aus, dass jede TATORT-Produktion die Bedingung #2von6 erfüllen muss, um mit öffentlichen Geldern finanziert zu werden. So kommt es zumindest zu einer angemessenen Repräsentanz, entsprechend der Frauenanteile in den Filmstudiengängen. Werden dann die Geschichten automatisch ,besser‘? Ich fürchte Nein, denn die Redaktionen haben ihre eigenen Vorstellungen von ,ihren Fällen‘, es gibt die ,TATORT-Bibeln‘ und viele Filmfrauen sind lange genug in unserer Männerfilmbranche sozialisiert, um die gleichen Mechanismen, Erzählweisen und Darstellungen verinnerlicht zu haben wie Männer.

Wäre also nichts erreicht? Doch. Filmfrauen kommen an die Futtertröge und können auch die branchenhöchsten TATORT-Honorare und -Gagen kassieren. Das Arbeitsklima in den Produktionen könnte sich ändern. Und auch die Fälle, und die Art wie die Figuren inszeniert und gesehen werden. Vielleicht gibt es dann weniger Fälle mit einem perfekt attraktiv ins Bild gesetzten „schönem jungen nackten toten Frauenkörper“ zu Beginn. Vielleicht auch weniger Fälle mit diesem unsäglichen „Frauenquälen-Porn“. Wer weiß.

Ein Beispiel für letzteres gibt es vermutlich am 8. Oktober zu sehen – AUS DEM DUNKEl ist der letzte Fall von Ermittlerin Ellen Berlinger (Heike Makatsch). Wird ausgiebig gezeigt werden, wie Frauen durch einen Stalker gequält und (fast) in den Selbstmord getrieben werden? Wird uns die Kamera mal wieder nur den männlichen Blick bieten, der womöglich das Herz jedes Sadisten höher schlagen lässt? Oder zeigt die Kamera auch einmal die Perspektive der verfolgten Frau?
Dieser Krimi hat nicht wirklich überraschend keine Frauenbeteiligung an den sechs Gewerken. Immerhin, es musste wahrscheinlich kein gewaltsames Ende Für Berlinger erfunden werden, denn der gesamte TATORT wird eingestellt, weil zu teuer. Der SWR produziert bereits die TATORTE aus Ludwigshafen, Stuttgart und dem Schwarzwald, alle länger als Mainz.