Seit ungefähr zeitgleich mit dem Fernsehkrimifestival im März 2020 (Fernsehkrimis – die Jury sind wir!) die Pandemie nach Deutschland kam ist es mir gelungen, allen Coronaviren aus dem Weg zu gehen. Aber in der Weihnachtszeit 23 war es leider soweit. Ich erspare Euch meine Symptom- und Unwohlseinsschilderungen, nur so viel: diese viel erwähnte Abgeschlagenheit ist nicht ohne, so dass ich viel von dem, was ich eigentlich dieses Jahr noch vorhatte nicht angehen konnte und kann. Dazu gehört auch ein Teil der Untersuchungen zum heutigen Thema TATORTE 2023. Entfallen müssen unter anderem leider die Analyse der 36 Hauptcasts und der Schauspieler:innen, die 2023 in verschiedenen TATORTEN und TATORT-Städten besetzt waren, eine statistische Auswertung der Mörder und Mörderinnen und Täter und Täterinnen (u.a. bzgl. Quantität und Alter), eine Betrachtung der Einstiegsbilder und des Zustand der „Einstiegsleichen“. Da ich den Artikel nicht ins neue Jahr mitschleppen möchte erscheint er heute, – stark verkürzt.
TATORTE 2023: Was tut sich hinter der Kamera.
Die nächsten sechs Abbildungen zeigen den 6-Gewerke-Check für die 2023 erstausgestrahlten 36 TATORTE, die Analyse #2von6, die Entwicklung in den drei Gewerken Regie, Drehbuch und Kamera von 2011 bis 2023 sowie die sechs Gewerke (zusätzlich noch Ton, Montage und Musik) für die Jahre 2018 bis 2023. Außerdem den 6-Gewerke-Check und die #2von6-Analyse für die 2023 erstausgestrahlten 8 POLIZEIRUFE.
Der Trend der letzten Jahre hat sich fortgesetzt: sowohl der Regisseurinnen– als auch der Autorinnenanteil sind mit 47,2 % bzw. 41,5 % auf einem Höchstwert angekommen. Ihr erinnert Euch vielleicht wie mehr Regisseurinnen TATORTE inszenieren durften aufgrund einer zunächst niedrig bei 20 % liegenden Zielvorgabe oder Absichtserklärung der Degeto, die nach und nach angehoben wurde? Und dass daran irgendwie gekoppelt die Autorinnen weniger wurden? (Stichwort: „Wir haben schon eine Frau im Team“). Erst als die Drehbuchautorinnen und zuvor natürlich dieses Blog dagegen angingen, die Zahlen auf den Tisch legten bzw. per Brandbrief das Gespräch suchten kamen langsam (wieder) mehr Autorinnen in dieses bestbezahlte Fernsehformat. Ebenfalls sei daran erinnert, dass ungefähr gleich viele Frauen und Männer an den Hochschulen in den Fächern Regie bzw. Drehbuch ausgebildet werden.
Wir erleben jetzt etwas ähnliches mit den Kamerafrauen. Mehr Regisseurinnen, mehr Autorinnen, und gleichzeitig sind an der Kamera Frauen kaum noch vertreten, also noch seltener als in den Vorjahren. Ebenso bleibt es bei den niedrigen Frauenanteilen in Ton und Komposition. Lediglich Montage, also der Schnitt, kommt auf weniger als 40 % Männer.
Wie sieht es mit dem Gradmesser #2von6 aus? Besser – aber an der Anforderung an ALLE Filme diese Vorgabe zu erfüllen scheitert etwa ein Drittel der Filme. Was natürlich auch etwas schwierig ist, solange das dem Zufall überlassen bleibt und nicht Vorgabe für jede Produktion ist. Acht TATORTE haben nur in jeweils einem der sechs Gewerke eine Frauenbeteiligung, und fünf weisen da gar keine Frauen aus:
DU BLEIBST HIER. 15.1., Dortmund.
ERBARMEN. ZU SPÄT. 10.9., Frankfurt / Main.
AUS DEM DUNKEL. 8.10., Mainz.
MUROT UND DAS PARADIES. 22.10., Wiesbaden.
DER MANN DER IN DEN DSCHUNGEL FIEL. 10.12., Münster.
Ein TATORT weist in fünf der sechs Gewerke Filmfrauen auf: DIE KÄLTE DER ERDE. 29.1., Saarbrücken.
Regie Kerstin Polte, Drehbuch Melanie Waelde, Kamera Christiane Buchmann, Ton Claudia Mattai del Moro (die einzige Tonmeisterin in allen 36 TATORTEN), Montage Julia Wiedwald. Musik Ephrem Lüchinger und Daniel Hobi.
Bei den POLIZEIRUFEN 110 erfüllt nur ein Krimi den Anspruch #2von6: RONNY (19.3., Magdeburg: Regie Barbara Ott, Montage Katharina Fiedler, Musik Jasmin Reuter). Entsprechend schlecht fällt auch der 6-Gewerke-Check 2023 aus, sowohl Regisseurinnen- als auch Autorinnenanteil sind deutlich niedriger als bei den TATORTEN. Kamera- und Tonfrauen arbeiteten 2023 überhaupt nicht in dieser Reihe.
Na und?
Ja genau, gute Frage. War DIE KÄLTE DER ERDE besonders gut oder besonders anders? Sind Krimis besser, die Fälle interessanter, die Plots schlüssiger, die Figuren weniger ärgerlich, wenn die Geschichten und die Inszenierungen in Frauenhänden liegen? Ich weiß es nicht und würde das zum Teil auch anzweifeln. Denn sie entstehen immer noch im recht starren TATORT-Korsett, das eine eigene Logik und Gesetzmäßigkeit bedeutet, seine eigenen Stereotype, seine eigenen Verbrechen, seinen eigenen Erzählweisen, seine eigenen thematischen Überfrachtungen, seine eigene Realitätsferne und und und. Egal wie innovativ ein TATORT daherkommt, eine Gemeinsamkeit mit den anderen TATORTEN gibt es womöglich immer. Und dagegen anzugehen ist nicht mal eben machbar. Ganz zu schweigen von den fast immer – oder sogar ganz immer? – von Männern erfundenen und entwickelten Ermittlungsteams, egal ob mit oder ohne Kommissarin. Da bleibt nicht so viel Spielraum. Zudem gibt es TATORT-Bibeln (also Vorgaben für die jeweiligen Standorte bzw. Ermittlungskonstellationen) und es gibt Redaktionen, die ebenso Hüterinnen des Ist-Zustands sind. Also was sehen wir?
An diesem Punkt begebe ich mich auf dünnes Eis, wie Ihr vermutlich wisst denn es ist ein offenes Geheimnis: ich gucke nur sehr sporadisch überhaupt TATORTE. Und wenn ich es aus irgendeinem Grund doch einmal mache habe ich es hinterher oft bereut (siehe TATORTE 2022 – eine gemischte Zwischenbilanz).
Aber es ist nun mal so, dass TATORTE die höchsten Budgets haben, vermutlich die höchsten Gagen und Honorare zahlen (zumindest für einen Teil von Stab und Besetzung), gewisse inhaltliche Freiräume erlauben, per so von großen Publikums gesehen werden, einfach weil TATORT draufsteht, was sich karrierefördernd auswirken kann – und das allein ist schon ein Grund, warum sie nicht nur Männern vorbehalten bleiben sollten.
TATORTE 2023: Und die Kamerafrauen.
Die unerfreuliche Unterrepräsentanz von Kamerafrauen habt Ihr im 6-Gewerke-Check eben schon gesehen (zur Erinnerung: ungefähr ein Viertel der Filmschulabsolvierenden im Fach Kamera ist weiblich). Ich möchte eine weitere Auswertung vorstellen:
29 Chefkameraleute arbeiteten in den 36 TATORTEN.
Die meisten Kameramänner drehten einen TATORT, es gibt vier, die 2023 mehrere Filme dieser Reihe verbuchen konnten: Ioan Gavriel (2), Michael Merkel (2), Andreas Schäfauer (3) und Michael Saxer (4).
Gleichzeitig gab es nur drei Kamerafrauen, die 2023 einen TATORT cinematographieren: Julia Jalnasow (SCHUTZMAßNAHMEN 1.1., München), Christiane Buchmann (DIE KÄLTE DER ERDE 29.1., Saarbrücken) und Katharina Diessner (WIE ALLE ANDEREN AUCH 25.6., Köln).
Keiner der 16 TATORT-Regisseure (19 Filme) hat mit einer Kamerafrau zusammengearbeitet. Warum nicht?
Der Male Gaze
Über den Male Gaze wird viel gesprochen, diese von Männern bestimmte Kameraführung in einem Film, die die Blickrichtung, Sicht und Wahrnehmung des Publikums lenkt. Merkwürdigerweise wird er fast häufiger in Beziehung zu Regie und Drehbuch gesetzt als zur Kamera, die naturgemäß mehr Sinn machen dürfte.
Nehmen wir den bedauerlichen Klassiker des deutschen Krimis: die Eröffnung mit dem Fund einer weiblichen jungen nackten Leiche. So könnte es im Drehbuch stehen, und so inszeniert es die Regie. Aber wie die Leiche gezeigt und gesehen wird, von wo, wie nah, welche Körperbereiche sind wie im Bild, zoomt die Kamera ran, wie wird ausgeleuchtet, was wird scharf und was verschwommen abgebildet und und und.
Falls das nicht ganz verständlich war, hier als Gegenbeispiel die stereotype Abfilmung eines lebendigen nackten Mannes. Er kommt von der Seite in einen Raum, verfolgt von der Kamera, die seinen Kopf und die Hälfte seines nackten Oberkörpers im Fokus hat, bis er vor einer Topfpflanze zu stehen kommt, die seinen Unterkörper verdeckt – hier zieht die Kamera auf und wir sehen seinen ganzen Körper. Der nackte männliche Körper wird geschützt, der weibliche nackte Körper noch weiter entblößt, womöglich sexualisiert – soll heißen, dass selbst eine Frauenleiche noch sexuell anziehend dargestellt wird. (siehe auch: Starke Frau, Auf die Fresse!). Was für mich auch zum Male Gaze gehört ist, dass die Blickrichtung der Frau nicht gezeigt wird. Nehmen wir einen Überfall, eine Vergewaltigung – die Kamera blickt auf die Angegriffene, auf das Opfer – wir sehen was geschieht durch die Augen des Mannes, des Täters. Ich kann mich nicht erinnern, wann einmal auch nur der Gegenschuss gezeigt wurde, nämlich der Blick der Frau auf den Aggressor. Wir sehen nicht die Bedrohung, denjenigen, der die Frau in Todesangst versetzt. Wir sind gezwungen das angsterfüllte Opfer anzusehen wie der Mann, der Täter, dem dies einen Kick gibt.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen in der Bildsprache eher ungewöhnlichen Film ansprechen: SHE SAID (2022), Drehbuch Rebecca Lenkiewicz, Regie Maria Schrader, Kamera Natasha Braier. Er handelt von den Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey, die Fälle von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen gegenüber jungen Angestellten und Schauspielerinnen durch den US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein (Miramax) recherchierten und öffentlich machten (New York Times, 5.10.2017). Im Film werden Vergewaltigungen und sehr viele andere sexuelle Übergriffe geschildert, aber nicht gezeigt. Wer ist für den vielleicht Female Gaze verantwortlich, die Autorin, die Regisseurin, die Kamerafrau? Wer weiß, vielleicht alle drei.
Der Michael Gaze
Natürlich gibt es nicht nur den Male und den Female Gaze. Meine TATORT-Analyse extrahierte beispielsweise den Michael Gaze. Acht TATORTE hatten einen Kameramann mit Vornamen Michael, das sind fast drei Mal so viele wie TATORTE mit einer Kamerafrau. Vier Michaels standen oder saßen hinter der Linse:
Michael Hammon (1): KÖNIGINNEN 29.10., München.
Michael Kotschi (1): ERBARMEN. ZU SPÄT 10.9., Frankfurt / Main.
Michael Merkel (2): LENAS TANTE 22.1. und GOLD 3.9., beide Ludwigshafen.
Michael Saxer (4): NICHTS ALS DIE WAHRHEIT I und II, 9./10.4., beide Berlin, SEILSCHAFT 30.4. und BLINDER FLECK 24.9., beide Zürich.
Diese 8 TATORTE wurden von einer Regisseurin und fünf verschiedenen Regisseuren inszeniert. Ist der Michael Gaze eine Kategorie für sich, und wenn ja wie würdet Ihr, diejenigen unter Euch, die alle 2023er TATORTE gesehen haben, ihn beschreiben? Oder ist er eher eine Unterform des Male Gaze?
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An dieser Stelle möchte bzw. muss ich mich von Euch verabschieden für heute, für dieses Jahr, denn ich bin platt und möchte meine Covidsymptome noch ein bisschen bekämpfen, damit ich heute Abend (immerhin ist Sylvester!) einigermaßen fit bin. Deshalb breche ich meine unvollständigen Betrachtungen an dieser Stelle ab und wünsche Euch allen ein offenes, aufschluss- und abwechslungsreiches, humorvolles und gesundes 2024 mit möglichst wenig misshandelten Frauen und Leichen auf den Bildschirmen.
Und damit auch dieser Artikel positiv endet möchte ich gerne an dieser Stelle eine liebe Kollegin zitieren, Bärbel Schwarz, die mal wieder in einem TATORT mitgespielt hat. Eine ihrer früheren Schwarzwaldtatortrollen war durch NEROPA zustande gekommen, was mich natürlich besonders freute und heimlich stolz machte, aber das ist jetzt nicht Thema, sondern das, was Bärbel mir schrieb:
Am Sonntag (26.11.) bin ich für ca 462,6 Sekunden im Tatort BOROWSKI UND DAS UNSCHULDIGE KIND VON WACKEN zu sehen.
So viele gab’s noch nie!!!
Und!!!!!
Das gab es wirklich noch nie nie nie!!!
Ich bin:
Keine Alkoholikerin.
Nicht psychisch krank.
Nicht vorbestraft.
Kein Hartz 4.
Nicht bipolar.
Keine Kettenraucherin.
Keine fettigen Haare!!! (What???)
Nicht im Rollstuhl.
Zerteile kein totes Tier.
Sondern hab einfach nur ein GANZ NORMALES BESTATTUNGSUNTERNEHMEN IN WACKEN!!
Und einen Namen!! = NEU+++NEU+++NEU!!!
Und einen Sohn der in einer Heavy Metal Band spielt.
Einfach eine Mama mit Sehnsüchten und täglichen Problemen.
Das hat mich WIRKLICH gefreut.
Wird es langsam besser bei den TATORTEN? Könnte sein!
Quelle für die verwendeten Angaben zu den TATORT-Crewpositionen Regie, Drehbuch, Kamera und Musik: ARD Webseite, weitere Recherchen (Schnitt und Ton): filmportal.de und crew-united.com