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Gedanken einer Schauspielerin

Das Berliner Theatertreffen 2013 – Berlin Theatre Meeting 2013

English Version follows German.

Derzeit – vom 3. bis 20. Mai – findet zum 50. Mal das Berliner Theatertreffen statt (LINK), veranstaltet von den Berliner Festspielen. Hier werden die „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen an deutschsprachigen Bühnen“ gezeigt. Über die Auswahl entscheidet eine Jury aus Theaterkritiker/innen, der dieses Jahr 4 Frauen und 3 Männer angehörten:
Anke Dürr (KulturSpiegel), Ulrike Kahle-Steinweh (freie Autorin für SWR Fernsehen, Der Tagesspiegel, Theater heute), Daniele Muscionico (freie Journalistin), Christine Wahl (freie Autorin für den Tagesspiegel, Theater heute, Spiegel Online), Vasco Boenisch (WDR Fernsehen, freier Autor der Süddeutschen Zeitung), Christoph Leibold (Theaterkritiker bei Bayern 2 und DRadio) und Franz Wille (Theater heute).
In den zehn Produktionen von  2 Regisseurinnen und 8 Regisseuren spielen insgesamt 39 Schauspielerinnen und 56 Schauspieler, das entspricht in etwa den „üblichen Verhältnissen“ auf deutschen Bühnen (siehe auch Eine Blume auf der Bühne
):

  • Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Schauspielhaus Zürich – Regie: Sebastian Baumgarten
  • Die Ratten. Schauspiel Köln – Regie: Karin Henkel
  • Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. Münchner Kammerspiele – Regie: Johan Simons
  • Disabled Theater. Theater Hora Zürich – Regie: Jerôme Bel
  • Jeder stirbt für sich allein. Thalia Theater Hamburg – Regie: Luk Perceval
  • Krieg und Frieden. Centraltheater Leipzig – Regie: Sebastian Hartmann
  • Medea. Schauspiel Frankfurt – Regie: Michael Thalheimer
  • Murmel Murmel. Volksbühne Berlin – Regie: Herbert Fritsch
  • Orpheus stieg herab. Münchner Kammerspiele – Regie: Sebastian Nübling
  • Reise durch die Nacht. Schauspiel Köln – Regie: Katie Mitchell

Sechs Produktionen sind Uraufführungen: 

  • Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. Stück von Elfriede Jelinek (2012)
  • Disabled Theater. Basierend auf einem Konzept von Jerôme Bel (2012)
  • Jeder stirbt für sich allein. Luk Perceval und Christina Bellingen (2012) nach dem Roman von Hans Fallada (1947)
  • Krieg und Frieden. Sebastian Hartmann (2012) nach dem Roman von Leo Tolstoi (1868)
  • Murmel Murmel. Stück von Dieter Roth (1974)
  • Reise durch die Nacht. Katie Mitchell mit Duncan Macmillan und Lyndsey Turner (2012) nach der Erzählung von Friederike Mayröcker (1984)

Vier nicht:

  • Die heiligen Johanna der Schlachthöfe. Bertolt Brecht (1959)
  • Die Ratten. Gerhart Hautpmann (1911)
  • Medea. Euripides (431 vuZ)
  • Orpheus stieg herab. Tennessee Williams (1957)

Was die Besetzungen betrifft hätte ich ein deutliches Männerübergewicht eher in älteren Stücken erwartet, tatsächlich ist dies aber bei zwei neueren der Fall: In Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. von Elfriede Jelinek (2012), treten 1 Schauspielerin und 6 Schauspieler auf, in Murmel Murmel von Dieter Roth (1974) 2 Schauspielerinnen und 9 Schauspieler. (Leider habe ich die ursprüngliche Besetzungsangabe zum Stück nicht gefunden, nur die Angabe, dass der Text aus dem zigfach wiederholten Wort „Murmel“ besteht. Also weiß ich nicht, ob die 2:9-Besetzung vom Autor oder dem Regisseur stammt.)
Auch Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe ist stark männerlastig, in Sebastian Baumgartens Inszenierung spielen 4 Schauspielerinnen und 7 Schauspieler mit, der Unterschied ist im Original aber noch größer: 3 Frauen– gegenüber 19 Männerrollen.  (Das Stück ist 1931 erschienen, wurde aber erst 1959 uraufgeführt, am Hamburger Schauspielhaus unter der Regie von Gustaf Gründgens)
Die einzige Produktion mit (leichtem) Schauspielerinnenübergewicht – 8:6 – ist die Krieg und Frieden-Fassung von Sebastian Hartmann, im zugrundeliegenden Roman gibt es ungefähr 40 männliche und 20 weibliche namentlich genannte Figuren.
Auch andere ältere Stücke – Euripides` Medea (431 vuZ), Gerhart Hauptmanns Die Ratten (1911) und Jeder stirbt für sich allein (nach Hans Falladas Roman aus dem Jahr 1947) – wurden in relativ ausgeglichenen Rollenverhältnissen inszeniert.

Frauen- und Männerrollen:

  • Krieg und Frieden. 8 F 6 M
  • Orpheus stieg herab. 5 F 5 M
  • Die Ratten. 4 F 4 M
  • Jeder stirbt für sich allein. 5 F 6 M
  • Disabled Theater. 5 F 6 M
  • Medea. 3 F  4 M
  • Reise durch die Nacht. 2 F 3 M
  • Die heiligen Johanna der Schlachthöfe.  4 F 7 M
  • Murmel Murmel. 2 F 9 M
  • Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. 1 F 6 M

Natürlich kann von 10 Produktionen nicht auf alle Inszenierungen eines Jahrsgangs geschlossen werden. Beispielsweise heißen drei der Regieleute Sebastian und zwei Bühnenbildnerinnen Eva mit Vornamen – das lässt sich aber natürlich nicht auf 30 % Sebastian-Regisseure bzw. 20 % Eva-Bühnenbildnerinnen im deutschsprachigen Raum hochrechnen. Und wie viele Frauen in der letzten Spielzeit deutschsprachige Theaterproduktionen inszenierten müsste auch überprüft, und dem Anteil der Frauen unter allen deutschsprachigen Theaterregieleuten gegenübergestellt werden.
Stücke und Rollen: es ist nicht weiter schlimm, wenn Stücke männerlastige Besetzungslisten haben oder Geschichten von Männern erzählen. Allerdings wäre das in der Gesamtheit, als mehrheitlicher Trend schon kritikwürdig. Denn Theater erzählt vom Leben, von elementaren Themen. Und da darf die Hälfte der Gesellschaft, die Frauen, nicht in eine Randposition gedrängt werden oder nur als Nebenfiguren vorkommen.

Hoffnungsvoll stimmt, wenn sich Regisseur/innen über die (Geschlechter-)Vorgaben in Besetzungslisten hinwegsetzen und Rollen anders als üblich besetzen. Das kann auch gerade bei klassischen Stoffen einen frischen Blick schaffen.
Was die neue Dramatik betrifft und ausgehend von den männerdominierten Uraufführungen beim diesjährigen Theatertreffen wäre es interessant, einmal alle Uraufführungen 2012 in Bezug auf das Geschlechterverhältnis auszuwerten. Aber das ist ein anderes Thema.
Und hier noch eine Übersicht der Frauen-/Männeranteile in einigen Teambereichen:
Theatertreffen2013

English Version

Berlin Theatre Meeting 2013

Right now – May 3 until 20 –  the Berliner Theatertreffen, the Berlin Theatre Meeting (LINK)  is under way for the 50th time, presented by Berliner Festspiele. Here the  „ten most remarkable productions on german-language stages“ are performed. This year the jury of theatre critics consisted of 4 women and 3 men):
Anke Dürr (KulturSpiegel), Ulrike Kahle-Steinweh (freelance author for SWR TV, Der Tagesspiegel, Theater heute), Daniele Muscionico (freelance journalist), Christine Wahl (freelance author for Der Tagesspiegel, Theater heute, Spiegel Online), Vasco Boenisch (WDR TV, freelance author for Süddeutsche Zeitung), Christoph Leibold (theatre critic for Bayern 2 and DRadio) and Franz Wille (Theater heute).
This jury chose ten productions from the past year, two by female directors, eight by male directors, all casts together consisted of 39 actresses and 56 actors. This all seems in accordance with the „usual proportions“ (please also check the blog entry A Flower on the Stage on this topic). These are the ten productions:

  • Die heiligen Johanna der Schlachthöfe / Saint Joan of the Stockyards. Schauspielhaus Zürich – Director: Sebastian Baumgarten
  • Die Ratten / The Rats. Schauspiel Köln – Director: Karin Henkel
  • Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. Münchner Kammerspiele – Director: Johan Simons
  • Disabled Theater. Theater Hora Zürich – Director: Jerôme Bel
  • Jeder stirbt für sich allein / Every Man Dies Alone. Thalia Theater Hamburg – Director: Luk Perceval
  • Krieg und Frieden / War and Peace. Centraltheater Leipzig – Director: Sebastian Hartmann
  • Medea. Schauspiel Frankfurt – Director: Michael Thalheimer
  • Murmel Murmel. Volksbühne Berlin – Director: Herbert Fritsch
  • Orpheus stieg herab / Orpheus Descending. Münchner Kammerspiele – Director: Sebastian Nübling
  • Reise durch die Nacht. Schauspiel Köln – Director: Katie Mitchell

Six Productions were world premieres:

  • Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. Written by Elfriede Jelinek (2012)
  • Disabled Theater. Based on a concept from Jerôme Bel (2012)
  • Jeder stirbt für sich allein / Every Man Dies Alone. Written by Luk Perceval and Christina Bellingen (2012) based on a novel by Hans Fallada (1947)
  • Krieg und Frieden / War and Peace. Written by Sebastian Hartmann (2012), based on a novel by Leo Tolstoi (1868)
  • Murmel Murmel. Written by Dieter Roth (erschienen 1974)
  • Reise durch die Nacht. Written by Katie Mitchell with Duncan Macmillan und Lyndsey Turner (2012) based on a narrative from Friederike Mayröcker (1984)

Four were not:

  • Die heiligen Johanna der Schlachthöfe / Saint Joan of the Stockyards. Written by Bertolt Brecht (1959)
  • Die Ratten / The Rats. Written by Gerhart Hautpmann (1911)
  • Medea. Written by Euripides (431 BC)
  • Orpheus stieg herab / Orpheus Descending. Written by Tennessee Williams (1957)

As far as the casts are concerned I was really expecting a distinct majority of male actors for the older plays, but indeed this was the case for a few of the newer ones: In Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. by Elfriede Jelinek (2012), there are 1 actress and 6 actors, in Murmel Murmel by Dieter Roth (1974) it’s 2 actresses and 9 actors. (So far I have not been able to check the originally proposed cast for of this play, all I know is that the textbook consists only of the word „Murmel“, many many times over. So I don’t know if the 2:9 relationships is the idea of the author or of the director).
Brecht’s Die heilige Johanna der Schlachthöfe / Saint Joan of the Stockyards has got a very male dominated cast as well, Sebastian Baumgarten’s production has 4 actresses and 7 actors, but it’s even more apparent in the original play: 3 female and 19 male parts on the list (The play came out in 1931 but was not performed until 1959, when Gustaf Gründgens directed it for the Schauspielhaus in Hamburg).
The only production with a (slight) majority of actresses – 8:6 – is Sebastian Hartmann’s version of Krieg und Frieden / War and Peace. In the original novel from 1868 there are approximately 40 male and 20 female named characters.
In other older plays – Euripides` Medea (431 BC), Gerhart Hauptmann’s Die Ratten / The Rats (1911) and Jeder stirbt für sich allein / Every Man Dies Alone (based on Hans Fallada’s novel from 1947) – were performed with quite even casts.

Female and male parts:

  • Krieg und Frieden / War and Peace. 8 F 6 M
  • Orpheus stieg herab / Orpheus Descending. 5 F 5 M
  • Die Ratten / The Rats. 4 F 4 M
  • Jeder stirbt für sich allein / Every Man Dies Alone. 5 F 6 M
  • Disabled Theater. 5 F 6 M
  • Medea. 3 F  4 M
  • Reise durch die Nacht. 2 F 3 M
  • Die heiligen Johanna der Schlachthöfe / Saint Joan of the Stockyards. 4 F 7 M
  • Murmel Murmel. 2 F 9 M
  • Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. 1 F 6 M

Of course it is impossible to deduce anything for all theatre productions of a year from just 10 shows. For example, three of the directos are called Sebastian and two of the stage designers are called Eva – but it would be weird to expect 30 % of all directors and 20 % of all stage designers to be Sebastians and Evas respectively. And how many women directed plays on german-language stages would have to be evaluated separatedly, and thereafter compared with the share of women among german-language theatre directors.  (this „german-language“ emphasis has to do with the fact that there are stages in other countries as well, e.g. Austria and Switzerland, where plays are produced in german, and they are considered for the Theatertreffen as well. This year for example the „Disabled Theater“ production is swiss).
Plays and roles: of course it is not bad, when plays have a male dominated cast or tell stories of men. But on the whole, as an overall trend, this would need to be criticized. Theatre is about life, it tells of elementary issues, and therefore it would be bad if one half of society, the women, are pushed to the sides and only appear as minor characters.
It is a hopefull sign when both male and female directors override the demands in casts regarding sex and other characteristics. This may open a new view especially for classic plays.
For modern plays and coming back to the male dominated premieres at this year’s theatre meeting it would be very interesting to evaluate the gender ratio for all premieres of last year. But that is a task for another day.
And finally a graph with the share of women and men in some of the team categories:
Theatertreffen2013

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