SchspIN

Gedanken einer Schauspielerin

Die erste Tuttle-Berlinale, Februar 25

Berlinale 13.-23.2.2025

In der Vergangenheit habe ich hin und wieder das Internationale Filmfestival Berlin untersucht und kommentiert, zuletzt vorletztes Jahr: Berlinale 2023, das vierte Jahr Chatrian & Rissenbeek.

Vor zwei oder drei Wochen endete die 75. Auflage der Berlinale, die gleichzeitig die erste mit Tricia Tuttle als Chefin war. Tuttle, deren Name mich an den 1985er Film BRAZIL denken ließ, leitete von 2018 bis 22 das London Film Festival. Sie ist US-Amerikanerin, lebt aber schon seit über fünfundzwanzig Jahren in Europa.

Eröffnungsgala. Moderatorin Desirée Nosbusch und Tricia Tuttle. Foto Berlin Int. Filmfestival / Sandra Weller.

Der Berlinale-Wettbewerb 2025

Prolog: Der Eröffnungsfilm

Eine der ersten Meldungen die ich zum Festival 2025 bekam – das war letzten Dezember – drehte sich um den Eröffnungsfilm DAS LICHT, der bei der Berlinale außer Konkurrenz lief. Dazu sagte Tricia Tuttle (Quelle Berlinale.de):

„Als wir DAS LICHT sahen, wussten wir sofort, dass wir damit die 75. Berlinale eröffnen wollen Tom Tykwer findet Schönheit und Freude in unserer oft brüchigen und herausfordernden Welt. Er fängt die Essenz unseres heutigen Lebens auf magische Weise auf der Leinwand ein. Wir freuen uns darauf, Tom Tykwer mit DAS LICHT erneut beim Festival begrüßen zu dürfen“.

Ich schrieb dazu auf Insta am 5. Dezember:

Gerade die Pressemitteilung des Berlinale Press Office gelesen: der Film DAS LICHT von Tom Tykwer wird die 75. Berlinale nächsten Februar eröffnen.
Ein schneller 6-Gewerke-Check liefert ein rosanes Bild, bis jetzt noch keine Frau im Kernteam, Montage steht aber noch aus.
Auch das ,typische‘ Frauengewerk Kostümbild ging an einen Mann: Pierre-Yves Gayraud.
Wäre die Erfüllung von #2von6 bereits Bedingung für öffentliche Gelder (2 der 6 Gewerke müssen mit Frauenbeteiligung sein) hätten die 5,84 Mio € nicht vergeben werden können.
Da es aber so ist wie es ist: Glückwunsch.
Übrigens: bei IMDB sind für diese Produktion unter Visual Effects mehr als 100 Filmleute gelistet!
Und übrigens II: Wären 5 der 5 Departments an Frauen vergeben wäre das sicherlich in allen Meldungen Thema. Aber umgekehrt?

Mittlerweile sind auf der Berlinale-Webseite auch die ,richtigen’ Editoren nachgetragen: Claus Wehlisch und Alexander Berner. Die Filmtonmeisterposition ist nicht genannt aber die Tongestaltung / Sound Design, das waren Mathias Lempert, Frank Kruse und Alexander Buck. Produzenten waren Uwe Schott und Tom Tykwer, das Szenenbild verantwortete Tim Tamke. Damit es nicht völlig monorosa bleibt ergänze ich noch Alexandra Montag (Casting) und Nicolette Krebitz (erstgenannte Rolle).

Mit Tom Tykwers letzten Produktionen, der Fernsehserie BABYLON BERLIN, konnte ich eher wenig anfangen (siehe Babylon Testosteron, fürstlich gefördert. 18.7.21 und Babylon Männersoap Berlin – zwischen den Weltkriegen. 15.11.2018). Insofern überraschte mich weder der 6-Gewerke-Check noch die überwiegend negativen Kritiken, die ich zu DAS LICHT las. Die Einschätzung von Tricia Tuttle  – „Er fängt die Essenz unseres heutigen Lebens auf magische Weise auf der Leinwand ein.“ – wurde nicht geteilt. Valérie Catil schreibt beispielsweise für das Goethe Institut (Feb. 25): 

Das Problem (…) ist, dass die Syrerin, Farrah*, letztlich eine reine Projektionsfläche bleibt: Ihre Geschichte wird instrumentalisiert, um den Deutschen zu zeigen, dass es ihnen eigentlich gar nicht so schlecht geht. (…) Farrah wird es nicht erlaubt, zu einer echten Figur mit Dimensionen zu werden. Sie ist mysteriös, flach, von Herzen gut. Sie bleibt Katalysator, sie bleibt die magische Syrerin. Bis zum Schluss, denn am Ende ist es nicht nur Farrah, die die Familie Engels heilt – es sind auch die Engels, die sie „retten“.
*die Haushälterin der Familie

Filmkritikerin Sophie Charlotte Rieger beleuchtet in ihrem Filmlöwin-Artikel Berlinale 2025: Mutterschaft auf und jenseits der Leinwand vom 27.2. einen anderen Aspekt:

Der dritten Mutter begegne ich erst beim Festivalauftakt, als ich den misslungenen Eröffnungsfilm DAS LICHT schaue. Ich werde schier wahnsinnig davon, wie Tom Tykwer eine Mutter zeigt, die sich auf Grund ihrer beruflichen Selbstverwirklichung vollkommen von ihren Kindern entfremdet hat – ja, genau, die klassische berufstätige „Rabenmutter“. Immerhin schenkt Tykwer seiner Figur eine Therapiesitzung (…). Doch kurz darauf sehe ich wieder die in ihren Beruf aufgesogene „Rabenmutter“, wie sie mit dem Handy am Ohr an ihren Kindern vorbeilebt, während der Film ihren mindestens genauso beschäftigten und abgelenkten Ehemann niemals kritisch in seiner Vaterschaft beleuchtet. Danke für nix, Tom Tykwer. Ein Sensitivity Reading hätte Wunder gewirkt. Kannst dich gerne beim nächsten Mal melden!

Es findet sich weder ein Sensitivity Reader noch ein/e Dramaturg:in bzw. Script Consultant in den langen Crewlisten bei IMDB und crew united. Erstaunlich vielleicht auch deshalb, weil Tom Tykwer gegenüber Silke Mehring im rbb-Interview vom 14.2.25 sagte: „Ich habe eine Menge Ideen, aber die gehen manchmal auch nach hinten los, deshalb brauche ich unbedingt Widerstand.“

Den Widerstand hätte er sich zum Beispiel bei Sophie Charlotte Rieger holen können, oder über den Dramaturgieverband VeDRA.

Wirklich Positives über DAS LICHT hörte ich nur von einer Filmschaffende, die von der Bildgestaltung begeistert war – also der Arbeit von Christian Almesberger.

Aber jetzt zum Wettbewerb:

Der Wettbewerb in Zahlen

Geschichten

Ich habe die Filme leider nicht gesehen, die Inhaltsangaben kenne ich nur von der Berlinale-Webseite, wobei mir da schon der stark persönliche Fokus aufgefallen ist. Das macht sie auf eine Art zeitlos aber ich frage mich, ob das so gut ist. Filmen (und Serien) aus der Coronazeit ist auch immer wieder die Abwesenheit von Masken und Kontaktbeschränkungen gemein – sind das keine relevanten Themen? – und auch bei den aktuellen Filmen sind die Figuren – im Gegensatz zu meinem persönlichen Erleben – wenig berührt von den Kriegen, Krisen, Katastrophen und Veränderungen dieser Welt. Aber wie gesagt, ich habe die Wettbewerbsfilme nicht gesehen, vielleicht ist das da anders. Allerdings macht Hanns-Georg Rodeck dazu in der Welt wenig Hoffnung:

Man hat überhaupt den Eindruck, dass diese Berlinale zu den drängenden Problemen nichts Konkretes zu sagen hat. Ein einziger Wettbewerbsfilm  – Zeitstempel (STRICHKA CHASU) zeigt, wie Schulen in der Ukraine sich trotz ständiger Bedrohung bemühen, den Unterricht fortzusetzen. Die restlichen 18 Wettbewerber begeben sich entweder in Vergangenheiten oder erzählen zutiefst private Befindlichkeiten.
Hanns-Georg Rodeck / Die Welt, 20.2.25

Produktionsländer

An der Produktion der 19 Wettbewerbsfilme waren insgesamt 26 Länder beteiligt. Die Tabelle zeigt die Angaben für 2025 und die von 2020 bis 2023 aus meinem eingangs erwähnten Artikel:

Es gibt 2025 vier Filme mit mehr als drei Produktionsländern:

  • YUNAN (Deutschland, Kanada, Italien, Palästina, Katar, Jordanien, Saudi Arabien)
  • REFLET DANS UN DIAMONT MORT / Reflection of a dead Diamond (Belgien, Luxemburg, Italien, Frankreich)
  • STRICHKA CHASU / Timestamp (Ukraine, Luxemburg, Niederlande, Frankreich)
  • O ÚLTIMO AZUL / The Blue Trail (Brasilien, Mexiko, Chile, Niederlande).

Das beeinflusst die Gesamtstatistik etwas. Wie Ihr seht waren die drei südamerikanischen Produktionsländer an ein und demselben Film – O ÚLTIMO AZUL – beteiligt, und von den sechs asiatischen Ländern waren es vier bei YUNAN.

Ansonsten ist leider wieder einmal kein japanischer Beitrag im Wettbewerb. Und auch keiner aus Indien – aber wenn ich das richtig erinnere wird nie ein Bollywoodfilm in den Wettbewerb eingeladen. Warum eigentlich nicht? Thematisch hätte sicher einer gepasst, und künstlerisch wären so weitere Farben dazu gekommen.

Sechs-Gewerke-Check

Der Frauenanteil in den Gewerken Regie und Drehbuch erreicht fast 40 %. Die 19 Wettbewerbsbeiträge wurden von 8 Regisseurinnen und 12 Regisseuren inszeniert, REFLET DANS UN DIAMONT MORT von einem Paar, Hélène Cattet und Bruno Forzani.

Sieben Drehbücher stammen von Autorinnen, zwei von Autor/Autorin-Duos. Bei 13 Filmen ist dieselbe Person für Regie und Drehbuch verantwortlich, in 5 Filmen war die Regie am Drehbuch beteiligt. Somit gibt es nur einen Film, bei dem diese beiden Positionen getrennt waren: BLUE MOON (Regie Richard Linklaker, Drehbuch Robert Kaplow).

Keine Regisseurin hat mit einer Kamerafrau gearbeitet, warum? Die einzige Kamerafrau im Wettbewerb, Cecile Semec, filmte den Goldenen Bär-Gewinner DRøMMER von Dag Johann Haugerud (Regie und Drehbuch) aus Norwegen.

Die Berlinale führt wie erwähnt die Position Tongestaltung aber nicht Tonmeister:in, deshalb habe ich erstere für die Auswertung übernommen. Das erklärt den im Vergleich zu sonstigen 6-Gewerke-Checks mit 21,1 % „hohen“ Frauenanteil im Gewerk Ton.

Editorinnen besetzten nur ein Viertel der Positionen.

Für Musik habe ich nur Angaben für 12 Filme gefunden (u.a. auf der Berlinale-Webseite, bei IMDB und crew united), der Frauenanteil liegt bei knapp 20 %. Die drei Komponistinnen arbeiteten alleinverantwortlich bei DRøMMER (Anna Berg) und YUNAN (Suad Bushnag), und mit anderen bei LA CACHE (Diego Baldenweg, Nora Baldenweg, Lionel Baldenweg).

#2von6 

#2von6 ist ein Konstrukt, das ich erfunden habe um möglichst schnell und unkompliziert den Frauenanteil in den sechs Kerngewerken Regie, Drehbuch, Kamera, Ton, Montage und Musik zu erhöhen. Die Bedingung ist, dass mindestens zwei dieser Gewerke – 2 von 6 – eine Frauenbeteiligung haben müssen, um… Tja, und das ist die Frage. Eine Filmförderung oder eine Redaktion könnte es zur conditio sine qua non machen (immerhin geht es da oft um öffentliche Gelder) aber auch ein Festival könnte es zur Richtschnur machen und es zumindest bei der Filmauswahl thematisieren.

Wie Ihr seht erfüllt mehr als die Hälfte der Filme den #2von6 Anspruch, nämlich 10 von 19. Es müssten zwar 100 % sein, aber immerhin jaja.

Das interessante ist, dass sechs Filme, also fast ein Drittel, sogar 3von6 erreichen, davon zwei Filme von Regisseuren, DRøMMER und LA CACHE. Beide hatten  (weibliche Erstgenannte Rollen und) an den übrigen 5 Gewerken mehrheitlich Frauen beteiligt. Etwas, das bei keiner Regisseurin zutraf.

Regie Buch Kamera Tongestaltung Montage Musik
LA CACHE Lionel Baier Catherine Charrier, Lionel Baier Patrick Lindemaier Raphaël Sohier Pauline Gaillard Diego Baldenweg, Nora Baldenweg, Lionel Baldenweg
DRøMMER Dag Johann Haugerud Dag Johann Haugerud Cecile Semec Gisle Tveito, Yvonne Stenberg Jens Christian Fodstad Anna Berg

Inwieweit sich das Vorhandensein bzw. die Abwesenheit von Filmfrauen in den Kerngewerken auf das filmische Ergebnis auswirkt können Leute besprechen, die die Filme gesehen bzw. sie diesbezüglich verglichen haben. Und wie es sich möglicherweise auf die Arbeit am Set ausgewirkt hat müssten wir Beteiligte fragen.

Alter Regie und Erstgenannte Rollen

Bei einer überschaubaren Gruppe von 19 Filmen sind Altersauswertungen nicht so aufwändig, deshalb können wir in den nächsten beiden Abbildungen die Geburtsjahrgänge der Regisseurinnen und Regisseure bzw. der Schauspielerinnen und Schauspieler der erstgenannten Rollen in 5-Jahres-Gruppen betrachten.
(NB: Altersangaben beziehen sich jeweils auf den 1. Januar 2025, nicht auf den Produktionsbeginn.)

Im Regiebereich fällt eine relativ gleichmäßige Altersdistribution beider Geschlechter auf – im deutlichen Gegensatz beispielsweise zur Regie der TATORTE, wo jüngere Frauen und ältere Männer als Gruppen erkennbar sind. Siehe TATORT: Was vom Jahre übrig blieb.

Die Durchschnittsalter für die Regisseurinnen sind 47,1 Jahre, für die Regisseure 48,3 Jahre.

Ungefähr die Hälfte – nämlich neun, drei Frauen und sechs Männer – wurden zwischen 1976 und 1985 geboren, sie sind entsprechend heute zwischen 40 und 50 Jahren alt. Vier sind jünger, sechs älter. Die älteste Regisseurin wurde am 7. Mai 1961 geboren – Lucile Hadzihailovic (LA TOUR DE GLACE), sie ist ein Jahr jünger als die beiden ältesten Regisseure: der US-Amerikaner Richard Linklaker (BLUE MOON) und der Süd-Koreaner Hong Sang-soo (GEU JAYEONI NEGE MWORAGO HANI). Der jüngste Regisseur, Ameer Fakher Eldin aus Syrien (YUNAN), wurde 1991 geboren und ist oder wird dieses Jahr 34, die jüngste Regisseurin, die Ukrainerin Kateryna Gornostaj (STRICHKA CHASU) wurde vor einer Woche 36. 

Und wenn Ihr genau hinguckt seht Ihr, dass nur sieben statt acht Regisseurinnen auftauchen, zu Vivian Qu konnte ich keine Angaben finden, und das ist ihr gutes Recht.

Für die 18 Spielfilme sind auf der Berlinalewebseite 12 weibliche und 6 männliche Rollen an erster Stelle aufgeführt, also ein Frauenanteil von zwei DrittelnDurchschnittsalter der Erstgenannten ist 44,4 Jahre bei den Frauen bzw. 43,0 Jahre bei den Männern.  Der 19. Film war wie gesagt eine Dokumentation. 

Die sechs Männerrollen verteilen sich ziemlich gleichmäßig über die Altersspanne von 10 (Wang Shang in SHENG XI ZHI DI) bis 83 Jahre (Fabio Testi in REFLET DANS UN DIAMONT MORT).

Zwei Drittel der Schauspielerinnen sind 44 Jahre oder älter. Der Schwerpunkt liegt mit 6 Rollen in den Jahren 1971-1980, das sind die 45 bis 55-Jährigen. Es gibt zwei weibliche Erstgenannte Frauenrollen über 60: Dominique Reymond (67) in LA CACHE und Denise Weinberg (68) in O ÚLTIMO AZUL. Die jüngste Hauptdarstellerin ist Ella Øverbye (20) in DRøMMER. Nochmals zur Erinnerung, ich habe hier nur die Erstgenannten Rollen ausgewertet, im Zentrum beispielsweise von DRøMMER stehen eine Enkelin und ihre Großmutter, und die Mutter gibt es auch noch.

Ich finde es – ungeachtet der Inhalte, wieIhrwissthabeichdieWettbewerbsbeiträgenochnichtgesehen – zur Abwechslung mal erfreulich, dass beide Geschlechter eine große Altersvariabilität und ähnliche Durchschnittsalter aufweisen. Als ich vor Jahren einmal die deutschen Top 100 deutschen Kinofilme auswertete, waren die weiblichen Erstgenannten Rollen meistens Kinder und Jugendliche. (zur Zeit arbeite ich an einer Analyse der Top 100 deutschen Kinofilme 2022, 2023 und 2024 – mal sehen, ob ich da auch das Alter reinnehme).

Epilog

Das war jetzt fast reine Statistik, doch zumindest zeichnet sie ein bunteres Bild als so manch älterer Festivaljahrgang. Und was die brennenden Themen unserer Zeit betrifft, die wurden vielleicht stärker in anderen Sektionen des diesjährigen Filmfestivals behandelt.

Die nächste, dann 76. Berlinale findet voraussichtlich im Februar 2026 statt, ich tippe mal vom 12. bis 22.

Kommentare sind geschlossen.