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Gedanken einer Schauspielerin

Interview: Wellywood Woman & Le Deuxième Regard

Letzte Woche hab ich über die Charte pour l’Egalité und eine mögliche Übertragbarkeit auf die deutsche Filmbranche gebloggt (Vive la nouvelle Révolution du Cinéma!). Heute gibt es zum gleichen Thema den ersten Gastbeitrag auf SchspIN, ein Interview von Marian Evans mit Bérénice Vincent, erschienen am 15. Oktober 2013 im Blog Wellywood Woman.
Dr. Marian Evans ist Autorin, Aktivistin und Rechtsanwältin, und außerdem Gründerin des Development Projects. Sie promovierte im Fach Kreatives Schreiben am Institute of Modern Letters der Victoria Universität von Wellington / Neuseeland.
Bérénice Vincent ist
Juristin (Studium in Paris, Marseille, Wes-Kaapland und 1 Jahr in Berlin) und arbeitet in der Rechtsabteilung der Europäischen Filmverleih und Produktionsfirma Wild Bunch in Paris. Sie ist Präsidentin von Le Deuxième Regard.

Marian Evans (Wellywood Woman) und Bérénice Vincent (Le Deuxième Regard)

Marian Evans (Wellywood Woman) und Bérénice Vincent (Le Deuxième Regard)

Hier eine Kurzfassung von Marians Einführung und anschließend das vollständige Interview:

Charte de l’Egalité for French Film Industry: Feminists Make History

Es war ein wunderschöner Tag. Die britische Online-Filmzeitschrift Screen Daily berichtete, dass Frankreich eine 5-Punkte-Charta zur Geschlechtergerechtigkeit für die Filmwirtschaft ins Leben gerufen hat, entwickelt von Le Deuxième Regard, einer Pariser Lobbygruppe (sprich: Aktivistinnengruppe), die von Bérénice Vincent, Delphyne Besse und Julie Billy gegründet wurde, und die jetzt die Charta in alle Bereiche der Branche tragen wird.
Diese Charta ist glaube ich einzigartig. Feministinnen arbeiten oft hinter den Kulissen für Veränderungen. Aber haben sie jemals eine Charta in kulturellen oder anderen Zusammenhängen initiiert oder mitverfasst, die dann von wichtigen Regierungsminister/innen oder Branchengrößen unterstützt und unterschrieben wurde?
Aus dem fernen Neuseeland betrachtet wirkt das Ganze wie ein brillianter Schachzug, denn die Charta musste nicht vom Parlament verabschiedet oder vor einem Gericht geklärt werden. Und sie hat die Steuerzahler/innen nichts gekostet. Und trotzdem hat die Charta durch ihre Form und die Qualität der Unterzeichnenden ein enormes Gewicht. 
Natürlich wollte ich unbedingt ein Interview mit Le Deuxième Regard machen und war begeistert, als die Zusage von der Vorsitzenden Bérénice Vincent kam.

Marian: Wie kam es dazu, dass Ihre Organisation an der Erstellung dieser Charta beteiligt war?

Bérénice: Nachdem wir Le Deuxième Regard im März 2013 offiziell gegründet hatten setzten wir uns mit dem Kulturministerium und dem Ministerium für die Rechte der Frau in Verbindung, um uns vorzustellen. Sie waren sehr aufgeschlossen und wir kamen schon bald mit den Berater/innen der Ministerinnen zusammen. Wir haben uns auch bei „La place des femmes“ (= die Studie „Der Platz von Frauen in Kunst und Kultur“) beteiligt. Der französische Senat hat uns zu einem Gespräch eingeladen, und wir konnten ihnen von verschiedenen Ideen erzählen, die uns vorschwebten, und darunter war auch die Charta.

Was war Ihre Rolle in diesem Prozess?

Wir haben die Charta entworfen. Die beiden Ministerien hatten nur einen Punkt geändert, sie hatten uns wirklich vertraut und fanden auch den Stil der Charta richtig gut. Kurz, effizient und allgemeingültig. Das Arte-Büro von Veronique Cayla hat uns auch immer wieder beraten.

Wie lange hat das Ganze gedauert?

Das ging richtig schnell. Wir hatten einen ersten Entwurf Ende Mai an die Kulturministerin geschickt.

Wie wurden die fünf Punkte ausgewählt und verhandelt? Gibt es Punkte, die Sie gerne noch dabei gehabt hätten oder die noch ergänzt werden könnten?

Alles was wir in der Charta haben wollten steht drin. Es ist der Beginn eines Engagements, einer Verpflichtung. Wir brauchen Statistiken, damit wir die Diskussion mit den verschiedenen Verantwortlichen der Branche beginnen können.

Hat die Studie „Der Platz von Frauen in Kunst und Kultur“ einen Unterschied gemacht? Und wenn ja, inwiefern?

Auf jeden Fall. Unser Treffen mit dem Senat hat deutlich dazu beigetragen, dass Le Deuxième Regard als eine Autorität in Fragen von Frauen in der Filmbranche anerkannt wurde.

Hat die Tatsache, dass die erstunterzeichnenden Organisationen Frauen an der Spitze haben, einen Unterschied gemacht? Inwiefern?

Ja ich denke schon. Sie mussten sich alle irgendwann in ihrem Leben und in ihren Karrieren mit dieser Frage auseinandersetzen. Und was besonders wichtig ist, sie befassen sich alle sehr mit diesem Thema, was ja nicht für jede Frau zutrifft.

Welche Rolle spielten Agnes Varda und Julie Bertucelli?  

Sie wurden zur Zeremonie eingeladen.

Welche Organisationen werden wohl als nächstes die Charta unterschreiben, und warum?

Festivals, Fernsehsender, Gruppen, Finanzierungsstellen… Ich hoffe, dass sie alle unterschreiben werden! Aber ich weiß das ist noch ein langer Weg.

Welche Organisationen werden sich eventuell verweigern, und warum?

Ich glaube all jene Organisationen, die finden, dass das kein Thema ist oder zumindest keins mit Priorität. Aber so wie ich das sehe gibt es keine plausiblen Gründe sich zu verweigern.

Werden Sie daran beteiligt sein, Gruppen zur Unterschrift zu bewegen, und falls ja, habe Sie da schon eine Strategie geplant?

Ja, wir werden zunächst einige der großen Player der Branche kontaktieren, weil sie vermutlich viele Fragen zur konkreten Umsetzung der Charta haben. Und wir brauchen dann konkrete Kontaktpersonen in jeder Firma um weitere Schritte zu planen.

Sind Sie für diese Arbeit bezahlt worden? Werden Sie Geld bekommen, die Charter zu  verbreiten?

Nein.

Was raten Sie Aktvist/innen in anderen Ländern, die eine ähnliche Charta anstreben?

Da gibt es verschiedene Möglichkeit, entweder politische Unterstützung suchen oder die Unterstützung von wichtigen Entscheidungsträger/innen der Branche.

Was kann “ihre Mitarbeiter/innen für das Thema Gleichstellung zu sensibilisieren, insbesondere durch Bekämpfen von Stereotypen” konkret für die Organisationen bedeuten, die die Charta unterzeichnen?

Als erstes müssen die Organisationen ihre Statistiken aufschlüsseln. Dann müssen sie erklären, warum das wichtig ist. Und dabei immer die Sache mit den Stereotypen im Hinterkopf behalten. ,Warum gibt es in diesem Gremium hauptsächlich Männer?’ ,Warum haben wir hauptsächlich Filme von Regisseuren gefördert?’ ,Warum haben wir hauptsächlich Filme von Regisseuren für dieses Festival ausgesucht?’ Wir müssen die mangelnde Beteiligung von Regisseurinnen in Frage stellen.

Was bedeutet „die Prinzipien der gleichen Bezahlung„?

Das heißt „gleiche Arbeit – gleiche Bezahlung“. Und das findet selten statt…

Geht es der Charta nur um die Regie oder auch um die Geschlechterverteilung in den anderen Crewbereichen? Und habt Ihr auch Pläne zur Besetzung, angesichts des beschränkten Angebots von Frauenrollen?

Die Charta betrifft jeden Bereich der Filmbranche, also auch die Besetzung. Frauenrollen haben etwas mit dem Schreiben zu tun.

Die notwendigen radikalen Veränderungen werden tiefgreifend sein und werden Zeit brauchen. Hast Du eine Vorstellung davon, wie lange das dauern kann? Habt Ihr Euch zum Beispiel mit dem Schwedischen Filminstitut darüber ausgetauscht, wie tiefgreifende Veränderungen am besten etabliert werden können?

Das wird lange dauern… Als erstes sollten Frauen lernen, dass Feminismus kein Schimpfwort ist. Es bedeutet, für gleiche Rechte für Männer und Frauen einzutreten. Alle Menschen sollten Feminist/innen sein. Und die Männer sollten verstehen, dass diese Frage auch sie betrifft. Diversität, Vielfältigkeit ist im Interesse aller, besonders im Interesse aller Künstler/innen, die von dem inspiriert werden was sie sehen, lesen, hören. Wir möchten auf jeden Fall Kontakt mit dem Schwedischen Filminstitut aufnehmen, sie sind sehr inspirierend.

Aus der Ferne betrachtet sind die französischen Feministinnen sehr spannend. Ich weiß nichts über den multikulturellen Feminismus den es sicherlich geben wird, aber ich stelle ihn mir sehr lebendig vor, eine Mischung aus De Beauvoir, dem ,französischen Feminismus‘ von Cixous & Co, dem legendären und lange existierenden Creteil Festival und Cineffable, die wundervolle La Barbe und ihre Cannes Petition. Wie ist Le Deuxième Regard entstanden und was sind Eure Ziele? Und wie passt ihr in das große Gesamtbild des französischen Feminismus?

 Wir wären ganz schön anmaßend, wenn wir uns bei diesen großen Namen und Initiativen einreihen würden. Wir sind jung und wir haben noch viel Arbeit vor uns bis wir behaupten können, irgendwo mitgemacht zu hagen. Die Charta ist ein großer erster Schritt, aber sie ist erst der Anfang. Wir bewundern diese Frauen, weil sie den Weg geöffnet haben. La Deuxième Regard ist natürlich eine Anspielung auf Le Deuxième Sexe von De Beauvoir. 

 Was ist der Kern Eurer Arbeit?

Wir wollen die Talente von Frauen in der Filmbranche fördern und Geschlechterstereotype bekämpfen.

Ich würde gerne etwas mehr über den Hintergrund der Gründerinnen erfahren. Ich finde es spannend, dass Ihr in der Produktion und im Vertrieb tätig seid. Hat Euch die Suche nach Projekten frustriert in Eurem Arbeitsalltag?

Wie sind alle ungefähr 30 Jahre alt und wir haben uns bei unserer ersten Arbeitstelle kennen gelernt, bei Celluloid Dreams, einem großartigen internationalem Vertrieb für Arthouse Filme. Delphyne Besse ist in dem Bereich internationaler Vertrieb gebleiben, sie hat für Rezo und EuropaCorp gearbeitet und ist jetzt bei Urban Distribution. Julie Billy hat sich auf Europäische Koproduktionen spezialisiert und arbeitet bei Haut & Court. Ich habe im Vertrieb angefangen wie Delphyne, dann habe ich bei einigen freien Produktionen gearbeitet. Vor zwei Jahren habe ich einen Sohn bekommen, das hat alles verändert! Ich arbeite jetzt bei Wild Bunch in der Rechtsabteilung (Legal & Business Affairs).
Wir haben eigentlich täglich mit Filmen von Frauen zu tun, aber wir arbeiten ja auch alle in mittelgroßen Firmen, die sehr dem Arthouse Kino verpflichtet sind. Das ist eine andere Problematik. Allgemein gesagt, gibt es immer noch so viele Geschlechterklischees… und Frauen sind dabei auch nicht besser als Männer… In einer Branche wie der Filmindustrie ist es absolut notwendig, das zu verändern.

War es ein berufliches Risiko für Euch, eine politische Gruppe zu gründen? Hat es schon Reaktionen gegeben, dass Ihr das Thema in die Öffentlichkeit getragen habt?

Wie ich schon sagte, der erste große Schritt ist ja erst vor ein paar Tagen geschehen. Es ist immer ein Risiko, zu so einem politischen Thema Stellung zu beziehen. Wir werden wahrscheinlich kritisiert werden (das passiert auch schon!), aber wir werden auch Befürworter/innen haben. So läuft das eben.

Unterstützen Euch FCTV Paris / WIFTV Paris oder andere Gruppen? Drehbuchautorinnen oder Regisseurinnen? Was ist mit Männern?

Wir haben FCTV noch nie getroffen aber würden das sehr gerne tun. Wir sind in regelmäßigen Kontakt mit EWA, dem European Women’s Audiovisual Network. Wir haben auch schon einige Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen unter unseren Mitgliedern und wir hoffen es werden mehr! Und natürlich sind auch Männer dabei! Aber sie sind (ausnahmsweise) unterrepräsentiert.

Was steht als nächstes für Euch an?

Wir planen einen Deuzième Regard Preis, in Zusammenarbeit mit einigen Festivals. Der Preis soll an einen Film gehen, der die traditionelle Darstellung von Männern und Frauen umstößt. Das Ziel ist, Arbeiten zu unterstützen, die Geschlechterklischees kippen. Filme von Männern und Frauen.
Wir erwägen auch ein Stipendium, aber das hängt davon ab, wie viel Geld wir zusammen bekommen. Sollten also irgendwelche potenziellen Sponsor/innen das hier lesen…

Thank you, Marian Evans, für die Überlassung des Interviews!

Wellywood Woman
Le Deuxième Regard
SchspIN: Vive la Nouvelle Révolution du Cinéma!