„Früh übt sich, was ein Meister werden will.“ – Eine Auseinandersetzung mit der Frage, was ein deutliches Geschlechterungleichgewicht in Film und Fernsehen für ein junges Publikum bedeuten kann (Gedanken aus London, Los Angeles und Berlin), die Saure Gurke und Juristinnen).
Nicht nur per direktem Aufruf, das Blog-Abo (oben rechts: Blog abonnieren / Follow Blog via Email), oder Verlinkungen auf anderen Seiten sondern auch über Suchmaschinen landen Leser/innen regelmäßig bei SchspIN. Dieser Tage führte u.a. das Gugeln nach „Happy birthday Bilder für Männer“ und „junge fraulein und elder man“ hierher 😉 . Und regelmäßig suchen Leute nach „Sesamstraße“ oder einzelnen Protaganist/innen daraus, und kommen zu diesem Text: Die Sesamstraße wird 40, den ich vor einigen Monaten anlässlich des 40-jährigen Jubiläums über das erschlagende Männerübergewicht bei Figuren, Puppen und Monstern der Sesamstraße schrieb. Bedeutet eine Sozialisation mit Kindersendungen ohne oder fast ohne weibliche Figuren, dass das Publikum (insbesondere die Entscheider/innen) im Erwachsenenalter die deutliche Unterprepräsentanz von Frauen im fiktionalen und nichtfiktionalen Fernsehen nicht mehr wahrzunehmen?
Über etwas ähnliches schrieb am 12. November Rebecca Brand, Filmschaffende und Kommunikationsexpertin aus London, im Guardian: „If she can’t see it, she can’t be it: why media representation matters“.
Sie schreibt: Ob wir es zugeben wollen oder nicht, die Figuren, die wir im Film und im Fernsehen sehen, in die wir uns verlieben, mit denen wir lachen, weinen, aufwachsen – haben einen Einfluss auf unser Leben. Sie tragen dazu bei, uns zu dem zu machen was wir sind, was wir sein wollen, wie wir die Welt um uns sehen. Deshalb ist die Darstellung in den mainstream Medien von Bedeutung. (…) Was vermitteln wir diesen jungen, beeindruckbaren Gemütern über Frauen? Und wie stutzen wir die Ambitionen von kleinen Mädchen zusammen, bevor sie sich überhaupt entwickeln können?
Überspitzt gesagt: Wenn Mädchen von klein auf in den Medien und fiktionalen Formaten ganz selbstverständlich mit einem deutlichen Männerübergewicht groß werden, und sie dazu noch von der Spielzeug- und Süßigkeitenbranche mit einer rosa Prinzessinnenmonokultur überschüttet werden, wie sollen sie dann davon träumen, Seeräuberin, Geheimagentin, Bäuerin, Rennfahrerin, Atomphysikerin oder Erfinderin zu werden? Und wie sollen Jungen auf die Idee kommen, dass Mädchen mehr können als sich rosa anziehen und retten lassen?
Rebecca Brands aktuelles Projekt mit dem Titel „Credible Likeable Superstar Role Model“ (derzeit noch in der Crowdfundingphase) ist ein Dokumentarfilm über „den verwegenen und provokanten Protest der Performancekünstlerin Bryoni Kimmings und ihrer 9 Jahre alten Nichte Taylor gegen die Tendenz einer Sexualisierung und Vereinheitlichung der Kindheit.“
Auch das 2004 in den USA von der Schauspielerin Geena Davis gegründete Geena Davis Institute on Gender in Media beschäftigt sich mit dem ungleichen Repräsentanz der Geschlechter – eine ausgedehnte Untersuchung von 400 Kindernfilmen beispielsweise ergab ein Rollenverhältnis von 3 männlichen auf 1 weibliche Rolle – und kämpft für eine veränderte Darstellung weiblicher Figuren und Geschlechterstereotype in Kindersendungen und den Medien der Unterhaltungsbranche allgemein.
Um ähnliche Themen ging es auch beim 36. Herbsttreffen der Medienfrauen von ARD, ZDF, ORF und Schweizer Rundfunk, die vom 8. bis 10. November bei den Kolleginnen von Rundfunk Berlin-Brandenburg und Deutschlandradio in Berlin zu Gast waren: „Welche Rolle spielen Frauen in den öffentlich-rechtlichen Sendern? Wie finden wir Frauen uns wieder? Was hat sich in den letzten Jahren getan?“
Außerdem wurde wie jedes Jahr die Saure Gurke verliehen, eine Negativauszeichnung für Beiträge,
- in denen Frauen nicht vorkommen
- in denen Frauen über ihren Körper definiert werden
- die den Zuschauerinnen und Zuschauern überidealisierende Rollenmodelle aufdrängen.
Preisträger 2013 ist der neueste Erfurt-Tatort KALTER ENGEL. In der Begründung der Jury heißt es: „Wir treffen auf Frauenrollen, die wir in 40 Jahren Tatort kennen und lieben gelernt haben: die Heilige, die Hure, die herrische Vorgesetzte und ein Mordopfer, das selbst schuld ist. Auch ein ‚junger‘ Tatort kann ziemlich gestrig sein!“
Angenommen es gäbe auch einen Nachwuchspreis – das Saure Gürkchen oder der Cornichon z.B., der entsprechende Beiträge für Kinder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auszeichnet, ich würde für 2013 diesen Radiobeitrag vorschlagen:
„Von der Polizei verhaftet – und dann?“ Autorin Corinna Thaon, Redakteurin Claudia König-Suckel, ausgestrahlt am 2.11.2013 in der täglichen Kindersendung Kakadu von DRadio Kultur (Edit 2018: die Beitragseite ist online nicht mehr verfügbar).
Worum ging es?
Bei seinem 15. Einbruch wurde Charlie von der Polizei erwischt. Doch was passiert dann mit einem solchen Täter? In unserem Rechtsstaat werden Menschen bestraft, die gegen das Gesetz verstoßen. Dabei sollen sie jedoch fair behandelt werden. Nachdem ein Verbrechen von der Staatsanwaltschaft und der Polizei nachgewiesen wurde, kommt der Beschuldigte vor Gericht.
Der Beitrag war schön gemacht, es kamen mehrere Kinder und ein Rechtsanwalt zu Wort, die Prozesse, Strafe und Verteidigung erklärten. Also alles gut – hätten da nicht NUR NUR NUR Männer im Gericht agiert. Es wird vom Rechtsanwalt, vom Staatsanwalt, vom Richter und sogar vom Protokollführer gesprochen. Die Gerichtsverhandlung wird von einem Schauspieler (Stefan Kaminski) nachgespielt: der Angeklagte, der Verteidiger, der Staatsanwalt, der Richter und ein Zeuge. Hier der Podcast (Edit 2018: nicht mehr online).
Die Moderatorin Ulrike Jährling sagte zum Ende des Beitrags „Das war ein ganz und gar gerechter Entdeckertag heute“ – nur, geschlechtergerecht war er nicht, und der Realität im Deutschen Justizwesen entspricht es auch nicht, denn die ist keine reine Männerwelt.
Dazu ein paar Fakten: Rechtswisenschaften sind bei weiblichen Studierenden das viertbeliebteste Studienfach, bei männlichen das fünftbeliebteste. Der Anteil der Studienanfängerinnen wuchs in den letzten Jahren von 49 auf 57 Prozent.
Seit 2009 ist die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zum zweiten Mal Bundesjustizministerin.
Letzten Monat erschien im SZ-Magazin (Heft 40/2013 vom 7.10.) der Artikel „Die neue Rechtsordnung“ von Annette Ramelsberger, in dem es u.a. heißt „Über Jahrhunderte war die Justiz fest in der Hand der Männer. Jetzt übernehmen dort Frauen die Spitzenpositionen – und verändern das System gründlich. (…) Heute werden mehr Richterinnen als Richter angestellt, und mehr Staatsanwältinnen als Staatsanwälte. In der Strafverfolgung sind die Frauen bereits in der Mehrheit.“ Zwar gibt es immer noch eine Mehrheit an Richtern, aber in der Altersgruppe unter 40 stellen die Richterinnen die Mehrheit. „Nur eine Konstante ist geblieben: Die Angeklagten sind zu 90 Prozent Männer.“
Angesichts dieser Realität ist es mehr als bedauerlich, wenn in einer Kindersendung die Justiz als reine Männerwelt dargestellt wird. Welches Mädchen, das das Kakadu-Feature hörte, wird hinterher gedacht haben „Au ja, ich werd‘ Staatsanwältin!“?
P.S.: Eine Anmerkung zum Titel, einem Zitat aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) Dritter Aufzug, Erste Szene
Hof vor Tells Hause. WILHELM TELL ist mit der Zimmeraxt, HEDWIG TELL mit einer häuslichen Arbeit beschäftigt. Die Söhne WILHELM und WALTHER spielen mit einer kleinen Armbrust.
HEDWIG: Die Knaben fangen zeitig an zu schiessen.
TELL: Früh übt sich, was ein Meister werden will.
HEDWIG: Ach wollte Gott, sie lernten’s nie!
Hedwig spricht vom Waffengebrauch, aber das Zitat lässt sich sicher auch in die saure Gürkchen-Welt der heutigen Medienlandschaft übertragen.
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