Das deutsche Fernsehen und die Einschaltquoten
UM HIMMELS WILLEN (ARD) war die erfolgreichste deutsche Fernsehserie 2013, wie schon im Jahr zuvor. Diesmal mit durchschnittlich 6,6 Mio. Zuschauer/innen pro Folge, 2012 waren es 7,1 Mio. Erfolgreichste Serie ist definiert als die mit den hochgerechnet angeblich höchsten, durchschnittlichen Fernsehpublikumszahlen.
Eigentlich wollte ich die komplette Serie, 156 Folgen in 12 Staffeln, hinter der Kamera (6-Gewerke-Check) und vor ihr (Haupt- und Nebenrollen) auswerten, aber leider ist das zur Verfügung stehende Datenmaterial sehr lückenhaft. Deshalb stattdessen ein paar Gedanken zu Einschaltquoten. Es gibt sie, aber sie sollten nicht zu wichtig genommen werden.
Wozu brauchen wir diese Statistiken? Helfen sie uns, Fernsehsendungen auszuwählen bzw. den Sendern, ihr Programm es zusammenzustellen? Wird eine Sendung besser oder schlechter durch die (Kenntnis der) Einschaltquoten? Hängt die Zukunft einer Serie von ihnen ab? Oder sagt die Quote eher etwas über den Bekanntheitsgrad einer Sendung / der Mitwirkenden / der Macher/innen aus? Ist sie ein Kontrollinstrument des Marketing zur Überprüfung des Erfolgs einer PR-Kampagne? Die Voraussetzung für den Verkauf von Werbeminuten? Oder für die Verteilung der Fernsehgebühren? Führen gute Quoten zu Prestigewinn der Sender bzw. Programmdirektionen? Und stimmen sie überhaupt?
Inwieweit beeinflussen die Quoten zukünftiges Sehverhalten? Was ist, wenn ich erfahre, wie viele Leute (angeblich) eine Sendung gesehen haben, die ich auch sah und die mir gefiel? Gefällt sie mir dann besser, fühle ich mich dann in meiner Meinung bestätigt? Was ist, wenn ,meine’ Sendung nur wenige gesehen haben? Wenn die Kritiken schlecht sind? Wenn rauskommt, die Sendung haben hauptsächlich Leute über 60 oder unter 14 gesehen? Fühle ich mich dann mies und sage, dass mir die Sendung doch nicht gefiel oder ich etwas anderes gesehen hab? („Bin nur beim Zappen kurz drin gelandet“)
Oder umgekehrt: Sehe ich mir eine Serie, die mir nicht gefiel, aber die gute Quoten bekam, das nächste Mal trotzdem wieder an, und sie gefällt mir dann auf einmal? Brauche ich Likes zur Orientierung? Geht es bei Quoten nur um Geld?
Vor Jahren erzählte ich einem Bekannten von dem argentinischen Film EL ABRAZO PARTIDO (Regie: Daniel Burman), den ich im Wettbewerb der Berlinale gesehen hatte. Mein Bekannter guckte in irgendeinem Filmratingverzeichnis nach, dort würden „alle wichtigen und guten Filme stehen“. El Abrazo Partido fehlte. Also konnte er laut meinem Bekannten nicht wirklich gut sein. Achso. Und ein bisschen kommt mir das manchmal mit der Quote auch so vor. Wenn ein Film eine niedrige Quote hat ist er wohl nicht so gut. (Wobei, oft genug heißt es, wenn ein Film eine gute Quote hat, und auf einem ÖR-Sender lief, aber auch: „Ach, das waren doch nur Leute über 60“ – und die sind schlechteres Publikum?)
Ganz abgesehen davon, ich bezweifle, dass die als Einschaltquoten veröffentlichten Zahlen den tatsächlichen Publikumszahlen auch nur annähernd entsprechen. Es sind reine Schätzungen, Hochrechnungen der GfK aus Messergebnissen von 5.000 Haushalten mit insgesamt rund 10.500 Personen über die Fernsehnutzung. Die angebliche Fernsehnutzung natürlich, also besser: die Fernseheinschaltung.
- Sind die 5.000 Messhaushalte repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, d.h. für ca. 78 Mio. Menschen über 3 Jahren?
- Entsprechen die von den 10.500 Leuten übermittelten Werte der Wahrheit, d.h. ist Messgerät eingeschaltet identisch mit Sendung geguckt?
- Machen die Schlussfolgerungen, die aus den hochgerechneten Messergebnissen gezogen werden, Sinn?
- Gibt es eigentlich Interessenverbände des Fernsehpublikums, analog zu den Fahrgastverbänden beim ÖPNV und Bahn? (gut, das ist ein anderes Thema)
Im digitalen Zeitalter werden Fernsehsendungen nicht nur im Fernsehen gesehen. Was die GfK aber nicht erfasst sind diejenigen der 10.500 Menschen, die eine Sendung per Internetstream gucken, sie aufnehmen bzw. in der Mediathek sehen, oder die sie bei Bekannten oder in einer Kneipe anschauen. Was ist mit denen, die den Fernseher und die Messbox eingeschaltet haben, aber gar nicht hingucken sondern telefonieren, aufräumen, mit der X-Box spielen, ins Nebenzimmer gehen oder auf dem Sofa eingenickt sind? Sind das Zuschauer/innen? Und was ist mit diejenigen, die bei der Eingabe ein bisschen flunkern?
Zur Auswertung bzw. Interpretation von Einschaltquoten ein Beispiel vom Dezember. Am 27. strahlte Sat1 eine Geburtstagsgala für Til Schweiger aus, am 28. wurde darüber berichtet. Dies schrieb das Internetmagazin DWDL:
Kaum Interesse an Til Schweigers Geburtstag: Die Zuschauer haben darauf aber wahrlich nicht gewartet. „Happy Birthday – Til Schweiger“ wollten gerade einmal 1,49 Millionen Zuschauer sehen, womit insgesamt nur miese 5,0 Prozent drin waren. Viel besser sah es dann auch in der Zielgruppe nicht aus. Nur 820.000 Zuschauer wollten den Geburtstag des Schauspielers zusammen mit Sat.1 feiern. Bei einem miesen Marktanteil von 7,6 Prozent wird es in Unterföhring zumindest heute keinen Grund mehr zu Feiern geben.
Warum diese Häme? Verursacht es dem Autor eine persönliche Genugtuung, wenn eine Sendung weniger errechnetes Publikum hatten als erwartet oder erhofft?
Aber noch ein Blick ins Medienportal MEEDIA vom gleichen Tag, dort steht auf der Seite mit der Überschrift Til-Schweiger-Geburtstagsshow floppt total: „Asterix“ lockt Millionenpublikum zu Super RTL. Bei den kleineren Sendern überzeugte u.a. Super RTL. 1,13 Mio. Leute sahen „Asterix – Operation Hinkelstein“ – gute 3,6%.
3,6 % sind gut und 5 % sind mies – 1,49 Mio ist ein Flopp, wohingegen 1,13 Mio überzeugen. Alles klar. Geht es also gar nicht um die (angeblichen) Zuschauer/innen, sondern um die größeren und kleineren Sender?
Um diese Zahlen etwas fassbarer zu machen: Köln hat 1,024 Mio. Einwohner/innen. Bei der letzten Bundestagswahl haben knapp 960.000 Menschen die Piratenpartei gewählt, „miese“ 2,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der zweiterfolgreichste (mit-)deutsche Kinofilm 2012 – CLOUD ATLAS – hatte 1,14 Mio Zuschauer/innen. 1,49 Mio. Zuschauer/innen hat das Hamburger Schauspielhaus (Deutschlands größtes Sprechtheater) nach 1240 ausverkauften Vorstellungen. Also sind 1,49 Mio. zwar kein umwerfender Fernsehpublikumswert, aber auch nicht völlig zu vernachlässigen.
Ein paar Größen, die die Quote über die Sendung selbst hinaus beeinflussen, sind z.B. Sendeplatz, Zufall und Pech. Ein Spiel- oder Dokumentarfilm, eine Serie oder Reportage, die Sonntag Abend um 20.15 Uhr läuft, hat allein schon schlechtere Karten, weil das TATORT-Zeit ist, und den gucken immer ganz viele, egal, welches Team ermittelt und was auf den anderen Programmen läuft. Dann gibt es noch das Senderimage. Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist der Zufall. Mein Film läuft um 20.15 Uhr an einem Werktag, an dem es keine außergewöhnliche Konkurrenz gibt, ich freue mich also auf eine gute Quote, und dann kommt auf einmal ein BRENNPUNKT nach der Tagesschau. Oder es wird ein Royal Baby geboren oder eine Papstwahl live übertragen, oder ein Fußballspiel. Die Sendung mit den laut Messung hochgerechnet meisten Zuschauer/innen 2013, gut 21 Mio., war das Championsleagueendspiel im Männerfußball (ZDF). Dass es zwischen zwei deutschen Teams sein würde, ergab sich erst vier Wochen vorher in den Halbfinalen, zu dem Zeitpunkt stand vermutlich schon das Programm der anderen Sender fest, die dadurch per se schlechtere Quotenchancen hatten.
Kleine Info am Rande: Thomas Bellut begründete die 50 Mio. €, die das ZDF für ein Jahr Übertragungsrechte der Männerfußball Champions League gezahlt hat (die bis dahin im Free TV bei Sat 1 zu sehen war) vor allem mit dem Plan, neue, jüngere Publikumsgruppen für das HEUTE JOURNAL in der Halbzeitpause zu gewinnen. Die Rechnung scheint ein bisschen aufgegangen zu sein, aber vielleicht sind auch einfach die Fernseher und Messgeräte angeblieben, während die Leute in der Pause auf Toilette gingen oder in die Küche, um für Getränkenachschub zu sorgen, oder sie den Ton leiser drehten und die erste Halbzeit analysierten („wir sind Trainer“).
Und dann gibt es auch noch Pech. Das Pech, dass ich zu spät von einer Sendung, von einem Film, einer Serie höre, die ganz toll waren. Die mir hinterher von Leuten, die sie gesehen hatten, empfohlen wird. Dieses Pech ist im digitalen Zeitalter zum Glück nicht mehr ganz so schlimm. Außerdem gibt es ja noch Wiederholungen. Aber das ist ein anderes Thema.
Was die Jagd nach der besten Quote und der Einschaltkampf gegen die anderen Sender für Auswirkungen haben kann, zeigt anschaulich, amüsant und bitter die 3. Staffel der dänischen TV-Serie BORGEN – GEFÄHRLICHE SEILSCHAFTEN: der neue, hippe und junge Programmdirektor Alexander Hjort ordnet alles dem Streben nach Einschaltquoten und Popularität unter und verdonnert Torben Friis, den ältlichen Chefredakteur der Nachrichtenredaktion dazu, Nachrichtensendungen zu einem Spektakel zu machen. Aber das ist ein anderes Thema.
Natürlich freue ich mich als Schauspielerin, wenn ein Film oder eine Serie, in der ich mitgespielt habe, gut ankommt und von vielen gesehen wurde und wird. Genauso freue ich mich auch, wenn eine Produktion, die mir als Zuschauerin gefällt, auch bei anderen gut ankommt und weiter laufen wird. Aber dafür brauche ich – – und hoffentlich auch die Sender – keine Quote. Vor allem tun mir die Perlen im Fernsehen leid, die auf weniger populären Sendern liefen und deshalb relativ weniger Publikum bekommen. Das ist beispielsweise bei vielen Sendungen auf arte der Fall (BORGEN, THE SLAP, TOP OF THE LAKE), die alle Quoten wie TATORT, Männerfußball, BAUER SUCHT FRAU oder ICH BIN EIN STAR verdient hätten.
Aber mal ein anderes Beispiel, an dem sich die Absurdität der Quote gut zeigen lässt. DER TATORTREINIGER. Das ist eine witzige Serie vom NDR, die ursprünglich mit 4 Folgen an den Start ging, und im Schnitt auf 50.000 Zuschauer/innen oder noch weniger kam. Es gilt dabei natürlich zu berücksichtigen, dass die Folgen erstmals zwischen dem 23. und 27. Dezember 2011 ausgestrahlt wurden, jeweils zwischen halb 4 und halb 6 morgens. Und dass der Sender kaum Werbung betrieben hatte. Ebensowenig bei der zweiten Runde, kurz nach Jahreswechsel, da liefen, 2 Tage vorher angekündigt (Pressemeldung „Der Tatortreiniger“ mit Bjarne Mädel), die ersten beiden Folgen Mittwoch 4. und Donnerstag 5. Januar 2012 gegen 22.30 Uhr. Folgen 3 und 4 wurden erst mal gar nicht mehr gezeigt. Schlechte Sendeplätze, schlechte Werbung. Trotzdem gab es einige Menschen, die diese Sendungen sahen und sehr mochten, und so kam es, dass DER TATORTREINIGER für den Grimmepreis nominiert wurde und 2012 und 2013 in mehreren Kategorien gewann. Das freute die Macher/innen beim NDR, es wurden neue Folgen produziert und auch gesendet, und heute schreibt der NDR „Der Tatortreiniger begeistert Fernsehpublikum und -Kritiker gleichermaßen“ – und das trotz der schlechten Behandlung durch den NDR selbst, und die schlechten Quoten.
Vielleicht ist die Quotenfixierung ein Überbleibsel aus den Anfängen des Fernsehens, als womöglich die Publikumsmessung von Theater und Kino übertragen wurde. Vielleicht ist sie Zeichen einer nostalgischen Sehnsucht nach Zeiten, als es nur zwei Programme gab, und das Fernsehpublikum und seine Wahl überschaubar war. Oder geht es um höher weiter besser, um immer größere Publikumszahlen – anstatt ein vielseitiges Angebot für alle zu entwickeln.
Klaus Pierwoß, langjähriger Intendant am Bremer Theater, sagte einmal zu einer Publikumsbefragung: „Ja, das sind die Vorlieben des Publikums. Aber wenn wir danach gehen, dürfen wir nur noch Operetten auf unseren Spielplan setzen. Aber das Theater hat eine andere Aufgabe.“
Übrigens, das ZDF hat gerade zwei erfolgreiche / quotenstarke Serien beendet, den LANDARZT und das FORSTHAUS FALKENAU. Ersetzt werden sie durch noch mehr Krimiserien. Aber das ist ein anderes Thema.
Das Merkwürdige ist, dass wir im Grunde alle ein bisschen diese Quotenmessung anzweifeln, oder nicht? Gleichzeitig glauben wir an sie, ist sie das Maß der Dinge bzw. das Goldene Kalb der Branche. Um einen Bogen zu UM HIMMELS WILLEN zu schlagen: „Nein, ich bin nicht abergläubig, aber ich hab gehört, es funktioniert auch, wenn man nicht dran glaubt.“
Es gibt die Einschaltquoten, aber sie sollten nicht zu wichtig genommen werden.
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