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Gedanken einer Schauspielerin

Zweimal werden wir noch wach – Germany’s Top Cop Drama 2015

Zweimal werden wir noch wach: Die Tatorte 2015

Zweimal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag!
(nach MORGEN, KINDER, WIRD’S WAS GEBEN, Weihnachtslied, 18. Jahrhundert)

Und ebenso zweimal können die TATORT-Fans dieses Jahr noch neue 90-Minüter dieser Reihe sehen: am 26. und 27. Dezember. Da die ARD auf ihrer Webseite aber bereits die Kurzinfos – Hauptcasts und einige wenige Teampositionen – zu den Filmen veröffentlicht hat, und die übrigen im Archiv stehen (Alle Fälle), kann ich bereits heute eine Auswertung der 40 erstaufgeführten TATORTE 2015 vornehmen, – und einen interessanten Vorschlag für 2016 machen.

Die TATORTE 2015 hinter der Kamera: Regie, Drehbuch, Kamera

Zur Datenlange: Die ARD Tatortwebseite scheint von verschiedenen Menschen gepflegt zu werden, jedenfalls ist die Darstellung der Filmcrews unterschiedlich: manchmal wird Regie an erster (von zwei, drei oder vier Positionen) genannt, manchmal an letzter. Meistens werden die Verantwortlichen für Regie, Drehbuch, Kamera und Musik genannt, manchmal nur für Regie und Drehbuch, die fehlenden Kamerapositionen habe ich dann aus der crew united Datenbank ergänzt. Kameramann Gunnar Fuß wird einmal Fuß und einmal Fuss geschrieben, einen anderen Kameramann gibt es als Peter Krause und Peter Joachim Krause. Auch die Anzahl der genannten Rollen differiert.

2015 erreichte dieses Krimiformat was die Beschäftigung von Kamerafrauen betrifft einen absoluten Tiefpunkt. Keine einzige Frau filmte einen TATORT. Oder umgekehrt ausgedrückt, alle 40 wurden aus der Sicht eines Mannes gefilmt, genauer: aus der Sicht von 30 Männern. Dass es Kamerafrauen gibt, auch TATORT-bewährte, zeigt ein Blick auf das Jahr 2012, als jeder 5. TATORT von einer Frau gefilmt wurde.

Edit / Ergänzung 28.12.: Ich weiß nicht, wie viele Kamerafrauen in Deutschland ausgebildet werden. Meine Auswertung der crew united Datenbank ergab eine Spanne von knapp 10 % Frauen für die Kamera/DoP-Position bis zu knapp 30 % für die 2. Kameraassistenz (Film: Frauengewerke, Männergewerke?), also können wir einen  Frauenanteil von mindestens 20 % unter den Filmschulabsolvierenden im Fach Kamera vermuten. Ich hoffe, es gibt da bald belastbare Zahlen.

Der Anteil der Drehbuchautorinnen (14 %) ist 2015 ebenfalls sehr niedrig, sowohl unter Genderaspekten (86 % der Stoffe wurden von Männern erzählt) als auch beschäftigungspolitisch betrachtet, denn in der Branche stellen Autorinnen rund 40 % (Frauenanteil im Verband VDD 41,7 %, und 36,9 % in der crew united Datenbank). Da einige TATORTE von Duos geschrieben wurden gibt es insgesamt 50 Autor*innen für die 40 Bücher, bzw. tatsächlich 7 Frauen und 36 Männer, denn einige Namen tauchen mehrfach auf.

Der Regisseurinnenanteil lag 2015 bei 10 %, 3 Frauen – Claudia Garde (2 x), Dagmar Seume und Nicole Weegmann – inszenierten 4 TATORTE. Die restlichen 36 TATORTE wurden von 32 Männern verantwortet.

Die ersten beiden Abbildungen zeigen die Teampositioen Regie, Drehbuch und Kamera für die Jahre 2011 bis 15, links im Gewerkevergleich, rechts in der Jahresübersicht.

Die TATORTE 2015 vor der Kamera: Frauen- und Männerrollen / Hauptcast

Für die 40 neuen TATORTE 2015 wurden auf der ARD-Webseite im Schnitt 12,5 Rollen aufgelistet (was natürlich nicht die komplette Besetzung der Filme ist), es waren durchschnittlich 4,7 Frauen- und 7,8 Männerrollen, das bedeutet ein Verhältnis von 1 zu 1,7.
Es gab zwei TATORTE mit gleichviel weiblichen und männlichen Rollen und zwei mit mehr Frauen als Männern (6 zu 5 bzw. 3 zu 2).

Die übrigen 36 TATORTE hatten allesamt mehr Männer- als Frauenrollen, davon 11 mindestens zweimal so viele Männer- wie Frauenrollen, 5 TATORTE mindest dreimal so viele, und ein (Frankfurt-)TATORT viermal so viele Männerrollen (3 zu 12, DAS HAUS AM ENDE DER STRAßE, 22. Februar).

Die folgende Abbildung zeigt den prozentualen Frauen- und Männeranteil für die TATORTE 2011 bis 15. Es ist eine Gesamtstatistik, die nicht die Bedeutung und Größe der Rollen berücksichtigt, aber in der Konstanz des Männerrollenübergewichts im Hauptcast über die fünf Jahre trotzdem aussagekräftig ist:

Tatort15_cÜber 60 % der Rollen wurden mit Männern besetzt. Jahr für Jahr. Ein nur zu gewohntes Bild.
Wenn wir lange auf gleichförmige Bilder gucken besteht die Gefahr, dass wir uns an sie gewöhnen und sie als unveränderliche Wahrheit nehmen, siehe beispielsweise die genordeten Landkarten, die tatsächlich nur auf der Übereinkunft basieren, den Norden oben und den Süden unten abzubilden – mit allen Nebenwirkungen.

Was wäre hingegen, wenn das geändert würde, wenn beispielsweise die UNO das Jahr der gesüdeten Karten ausruft und alle Mitgliedsstaaten auffordert, ihr Kartenmaterial zu süden, d.h. den Süden als die nach oben zeigende Himmelsrichtung festzuschreiben. Was wäre, wenn ein Großteil der Staaten ihr offizielles Kartenwerk, z.B. die Wetterkarte im staatlichen Fernsehen, die Weltkarte bei der Pressekonferenz im Außenministerium, die Stadt- und ÖPNV-Pläne im öffentlichen Raum verändert? Das würde unsere gewohnte Sicht auf die Welt im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf stellen.

Innerhalb von drei Jahren sollen laut ARD-Programmdirektor Volker Herres 20 % der TATORTE von Regisseurinnen inszeniert werden. Für einen Genderproporz beim Verfassen der TATORT-Drehbücher wurde noch keine Zielvorgabe aufgestellt, ebensowenig für den TATORT-Look, die Kameraposition. Auch die Rollenverteilung und -charakterisierung und die Plots wurden meines Wissens noch nicht thematisiert. Wie soll da das Männerformat TATORT zu einem gesellschaftlichen Format werden?

Aber das Neue Jahr und Weihnachten stehen vor der Tür. Die Zeit für Vorsätze, Wünsche und Glauben an Wunder. Also:

Was wäre wenn….

Manche nennen es Vision, manche Zielvorgabe, manche Challenge.

Ich male ein neues Bild. Keine Umkehr der Verhältnisse, nicht einmal ein 50 zu 50. Nein, ganz zurückhaltend. Ich zeige die Statistiken für 2011-16, wenn nächstes Jahr folgendes eintritt:

  • Die Rollenbesetzung spiegelt die Frauen- und Männerverteilung in der Bevölkerung wider.
  • Die Regieauftragsverteilung entspricht den Frauen- und Männeranteilen unter den Filmhochschulabschlüssen.
  • Der Frauenanteil unter den Drehbuchautor*innen entspricht ihrem Anteil in der Branche.
  • Der Proporz der Kamerafrauen entspricht der gesetzlichen Mindestfrauenquote für Aufsichtsräte der Top DAX-Unternehmen.

Da es bei der Gewöhnung an Veränderungen hilft, diese zu visualisieren, habe ich die statistischen Grafiken entsprechend ergänzt. So sieht das neue – machbare – Bild aus:

Besetzung: Wenn wir die gleiche Rollenanzahl wie im Hauptcast 2015 zugrunde legen würde das 2016 für Frauen 254 statt 186 Rollen und für Männer 245 statt 313 Rollen bedeuten. Die zusätzlich benötigten Schauspielerinnen sind vorhanden. Machbar.

Falls Euch an der linken Grafik stört, dass 2016 die blaue Säule leicht höher ist als die rosane: Am 31.12.2014 lebten in Deutschland mehr Frauen als Männer. War der große Abstand zwischen den beiden Säulen in den fünf Jahren davor genauso irritierend?

Regie: Um eine Quote von 42 %, dem Frauenanteil unter den Absolvierenden im Regiefach an den Filmhochschulen, zu erreichen, müssten bei 40 TATORTEN 17 an eine Regisseurin vergeben werden. Das ist gegenüber den 4 Regisseurinnen im Jahr 2015 ein enormer Sprung. Aber irgendwann ist immer das erste Mal, im Regieverband sind 132 Regisseurinnen Mitglied (Stand 2014), in der Crew United Datenbank sind 323 Regisseurinnen mit offiziellem Account registriert (Stand 4.6.14) und den Aufruf von Pro Quote Regie haben aktuell (22.12.15) 325 Regisseurinnen unterschrieben. Also machbar.

Drehbuch: Wie immer wieder festgestellt wird: es gibt nicht den TATORT. Nicht die TATORT-Handlung, nicht die TATORT-Figuren. Allerdings, TATORTE werden mehrheitlich, d.h. zu 75 bis 90 %, von Männern erdacht. Was wird anders, wenn die Bücher von mehr Frauen geschrieben werden? Wir können es 2016 sehen, wenn sie 40 % der Aufträge bekommen. In der Crew United Datenbank waren am 4. Juni 2014 insgesamt 94 aktive Autorinnen mit einem Bezahlaccount registriert, 17 würden für die TATORTE 2016 benötigt. Machbar.

Kamera: 2015 wurde wie erwähnt keine Kamerafrau für einen TATORT verpflichtet. Von 2011 bis 2014 haben insgesamt acht Kamerafrauen in 18 TATORTEN unter acht Regisseurinnen und elf Regisseuren gearbeitet: drei je einmal (Bella Halben, Birgit Gudjonsdottir und Cornelia Janssen), zwei zweimal (Jana Marsik und Jutta Pohlmann mit drei verschiedenen Regisseuren), Eeva Fleig filmte drei TATORTE (jedes Mal unter der Regie von Franziska Meletzky) und Christine A. Meyer und Cornelia Wiederhold kommen auf vier TATORTE, Wiederhold mit vier unterschiedlichen Regisseuren und Meyer dreimal mit Sabine Derflinger und einmal mit Klaus Krämer.

Wenn zu diesen acht Kamerafrauen nun 2016 noch vier weitere dazukommen sind die 30 % Frauenanteil schon erreicht. Oder jede der acht bekommt zwei TATORTE, dann wären es bei 40 Filmen in diesem Gewerk sogar 40 %. Machbar.

Dazu kommen die Synergien: wenn die 42 % in der Regie erreicht sind, werden die 30 % bei Kamera gar nicht mal so unrealistisch sein, denn Regisseurinnen arbeiten häufiger mit Kamerafrauen als Regisseure dies tun. Drehbuchautorinnen schreiben insgesamt weniger männerlastige Plots, insofern ist auch das Erreichen der Vision Cast bei einem deutlich erhöhten Anteil der Autorinnen ein Leichtes. Die TATORT-Welt würde nicht auf den Kopf gestellt, nur ein bisschen.

Mein älterer Quasi-Zwillingsbruder Til Schweiger (wir haben am gleichen Tag Geburtstag) schlug neulich vor, die TATORT-Titelmelodie zu erneuern.
Meine Vision für 2016 würde diese Erneuerung noch etwas weiter bringen. Was für neue TATORT-Schätze werden dann wohl entstehen können?

Frohe Weihnachten!