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Gedanken einer Schauspielerin

NEROPA in der Stoffentwicklung

  • Die Ausgangsfrage
  • Die NEROPA-Ampel
  • Schreibe erst, entscheide später
  • Ist das wirklich nötig?
  • Die FFA-Filmförderung November 17
  • Epilog: Schiffe, die sich nachts begegnen

Die Ausgangsfrage

Ab und zu werde ich gefragt, ob auch Drehbuchautor*innen das Besetzungstool NEROPA anwenden können, um das Rollenungleichgewichte zwischen Männern und Frauen in Film und Fernsehen abzubauen. Die Antwort heißt „eher nein“ und „ja natürlich“ zugleich, letzteres werde ich heute erklären.
Der NEROPA-Check für einen Film wird idealerweise von drei Personen ausgeführt. Sechs Augen sehen mehr als zwei, Gehirne ticken nicht gleich und Menschen machen unterschiedliche Erfahrungen. Die drei NEROPA-Beauftragten werden vermutlich differierende neutrale Rollen im Buch ausmachen, also Rollen, deren Geschlecht für die Handlung nicht wichtig ist. Dann sprechen sie miteinander und einigen sich auf eine gemeinsame Liste (siehe auch: Der NEROPA-Check).

„eher nein“
Ein Drehbuch – davon wollen wir ausgehen, zumindest solange es noch nicht beispielsweise in der Vorproduktion verändert wurde – ist das, was der Autor oder die Autorin meint, genau diese Figuren sollen darin vorkommen, genau das sagen sie, genau das tun sie. Wenn die Drehbuchautor*innen ihre fertiggestellten Bücher neropen* sollen, würden sie wahrscheinlich auf null neutrale Rollen kommen. Fragt mal ein Kind nach den Namen seiner Stofftiere. „Ah, das ist also der Hasi. Könnte es nicht auch die Hasi oder der Hoppel sein?“ Natürlich nicht. Sieht man doch, das ist der Hasi.
Ich stelle mir vor, dass die Figuren die Stofftiere der Autor*innen sind, mit denen sie sich seit Wochen, Monaten oder Jahren beschäftigen. Sie kennen sie in- und auswendig und wissen warum sie da sind. Das heißt, dass die Wahrscheinlichkeit eines „klar, diese fünf oder zehn Figuren können auch neutral sein“ (oder gestrichen werden) nicht allzu groß ist.

„ja natürlich“
Jetzt könnte sich der Drehbuchmensch zwei andere dazu holen, die NEROPA anwenden und das Ergebnis mit ihm diskutieren. Das finde ich aber keine überzeugende Vorstellung. Deshalb habe ich mir etwas anderes überlegt, sozusagen NEROPA als Solo, für einem früheren Einsatz. Und das kann gut – und unkompliziert! – funktionieren.

Allzeit bereit: Die NEROPA–Ampel

Die NEROPA-Ampel*

Ich habe ein oder zwei Mal als Einwand gegen die NEROPA-Methode gehört „Drehbuchautor*innen mögen es nicht, wenn an ihren Büchern etwas verändert wird“. Ja, das ist nachvollziehbar. Nur sind die verfilmten Stoffe bei uns in ihrer Gesamtheit leider stark männerlastig. Mein Vorschlag wäre, den NEROPA-Check bei allen Filmen, die mindestens doppelt so viele Männer- wie Frauenrollen aufweisen, durchzuführen.
Insofern ist der beste Schutz gegenüber Eingriffen durch NEROPA (und was es sonst für Tools geben mag), und gleichzeitig ein Beitrag für mehr Diversität und Abbildung der Wirklichkeit, selber das Konzept der neutralen Rollen in der Stoffentwicklung beziehungsweise beim Schreiben anzuwenden.
Zur Erinnerung sechs 20:15 Uhr Sendeplätze von ARD und ZDF, Erstausstrahlungen 2015, Analyse der Hauptcasts:

Bemerkenswert ist, dass die Herzkino-Sendereihe (ZDF, Sonntag Abend) 100 % weibliche erstgenannte Rollen hat bei insgesamt ziemlich ausgeglichenen Hauptcasts (die Gesamtcasts werden vermutlich aufgrund der Kleine-Rollen-Problematik – Stichwort: generisches Maskulinum -ein Männerübergewicht aufweisen). Es gibt beim Herzkino noch 6 Filme mit 2- bis 3 ½ mal mehr Männer- als Frauenrollen, bei gleichzeitig 0 Filmen mit doppelt so vielen oder mehr Frauenrollen im Hauptcast. Warum gibt es das eigentlich nicht bei sog. Männerfilmen? Denn wenn wir die beiden Sendeplätze mit den höchsten Männeranteilen bei den erstgenannten Rollen betrachten, den ZDF-Montagsfilm FERNSEHFILM DER WOCHE und den ARD Sonntagsfilm TATORT haben wir über 60 % Männer im Hauptcast und 11 bzw. 13 Filme mit mindestens doppelt so vielen Männerrollen (Spitzenwerte 11- bzw. 4-fach).

Dies gilt es zu ändern, denn unsere Gesellschaft sieht anders aus, und will ein anderes Fernsehen (siehe der öffentlich-rechtliche Anspruch von ARD und ZDF).

* Auf den Begriff Ampel kam ich durch die drei Farbbehälter. Die Assoziation rot / rosa = Stehenbleiben, grün = Losfahren / Weiterfahren ist auch nicht schlecht. Die NEROPA-Ampel im Hinterkopf kann aber auch einfach nur bedeuten, auf drei Farben, resp. Figurengruppen zu achten.

Schreibe erst, entscheide später

Schon früh werden beim Drehbuchschreiben die Weichen für die Geschlechterverteilung und somit meistens das Männerübergewicht im Film gestellt. Die Hauptrolle, oder die zwei, drei Hauptfiguren, stehen meist von Anfang an fest und mit ihnen ihr Geschlecht. Nach und nach, im Laufe der Stoffentwicklung, beim Schreiben (siehe auch: DramaWiki: Textformen) kommen andere Personen dazu, bis es am Ende 15 oder 25 oder noch mehr Sprechrollen sind.
Vermutlich werden die Hauptfiguren gründlicher gezeichnet und häufiger überarbeitet. Die Nebenrollen schon weniger, und die namenlosen noch seltener. Da stellt sich vermutlich eher die Rein-oder-Raus-Frage. Bleibt der Nachbar drin? Oder hat er am Ende so wenig zu sagen und ist so uninteressant, dass er mit dem Briefträger verschmelzen kann?
Bei einigen Figuren gibt es im Entstehungsprozess des Drehbuchs lange keine Entscheidung und keinen Grund für ein bestimmtes Geschlecht. Sie sind neutral und können aktiv und sichtbar als solche klassifiziert werden. Auf der Handlungsübersicht, der – grünen – Karteikarte mit den Figureninfos, als grüne Figur zum Ausprobieren von Figurenkonstellationen, in der Textdatei oder Drehbuchsoftware. Vielleicht können sie am Anfang auch genderneutrale Namen oder Bezeichnungen bekommen: Uli, Chris, Pit, Schobert, Berning, Kiosk (statt Kioskbesitzer*in), Dr. (statt Ärztin / Arzt) usw. usf.
Vielleicht erwachsen im Laufe des Schreibens klare Gründe dafür, dass Uli und Kiosk männlich, und Chris und Schobert weiblich sein müssen. Die übrigen sind am Ende immer noch neutral, – und werden tadaaa! mit Hilfe der Neutralen Rollen Parität abwechselnd als FrauMannFrauMann definiert. Oder sie bleiben einfach neutral und es wird Sache der Caster*innen, geeignete Schauspielerinnen und Schauspieler vorzuschlagen (siehe auch Die Zukunft hat begonnen).
(Es können natürlich auch alle neutralen Rollen zu Frauen gemacht werden, das würde auch nicht schaden, denn es wird garantiert leider noch eine Weile das Männerrollenübergewicht vor der Kamera geben. Insofern wäre das ein kleiner Beitrag für mehr Diversität.)

Die nächsten vier Abbildungen zeigen Beispiele der praktischen Umsetzung.

Im vierten Bild wude die Drehbuchsoftware DramaQueen angesprochen. Die Macher*innen haben mir mitgeteilt, dass „aller Voraussicht nach“ die Wahloption offen neben männlich und weiblich in einem der nächsten Updates kommen wird. Danke, das sind tolle Aussichten!

Ist das wirklich nötig?

Schreiben ist ein kreativer Vorgang, warum so eine bürokratische Vorgehensweise? Muss das so formalisiert werden, muss es diese Ansage geben, den Umweg über die befristet definierten neutralen Rollen?
Ja. Weil die Alternative nicht funktioniert hat. Es ist wohl kaum das Anliegen von Drehbuchautor*innen, Männergesellschaften zu erschaffen. Das ist meistens einfach so passiert. Immer wieder. Jahrzehntelang. Eine schlechte Gewohnheit, die mehrheitlich reproduziert wird. Fällt schon gar nicht mehr auf.
Vielleicht auch, weil das generische Maskulinum verwendet wird und Frauen ,mitgemeint sind‘ (der Klassiker: drei Journalisten, oder im Singular: ein Rechtsanwalt). Vielleicht weil tatsächlich neutral geschriebene Namen – Prof. Goldibold – leider für viele männlich klingen. (siehe auch die Texte von Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, z.B. Sprache und Ungleichheit).
Zurück zu den „drei Journalisten“ – spätestens wenn sie sprechen, und einzeln als Journalist 1, Journalist 2 und Journalist 3 aufgeführt werden, oder wenn Pronomen ins Spiel kommen, werden auch die hartgesottensten Vertreter*innen der Frauen-mitgemeint-Sphäre nicht mehr an Journalistinnen denken.
Dagegen hilft das hier beschriebene formalisierte Vorgehen. Auch weil die Variante „ich guck am Ende noch mal drüber und schreib ein paar Figuren umebenso wenig den gewünschten Ausgleich gebracht hat. Wochen und Monate Beschäftigung mit einem Stoff bedeuteten eben auch, dass es die ganze Zeit Herrn Harsen und Herrn Steuber gab. Und den Journalisten.
Und wenn mir bewusst ist, dass es – vielleicht sogar in meinen Stoffen – zu wenig Frauenrollen gibt, dann kann ich ja auch gleich von Anfang an etwas machen. Und wer weiß, was mit der Geschichte passiert, wenn ich eine Weile zusätzlich mit neutralen Figuren arbeite. Das kostet nichts und verzögert den Schreibprozess auch nicht wirklich.

Die FFA Filmförderung November 17

Wie nötig NEROPA ist, entweder in der Stoffentwicklung oder spätestens zum Produktionsbeginn, hat die jüngste Förderentscheidung der FFA  verdeutlicht (veröffentlicht am 1.11.: Mit Alfred Döblin und Udo Jürgens von Berlin nach New York / FFA vergibt rund 1.3 Millionen Euro für Produktions- und Drehbuchförderung). Lobenswerterweise liefert die FFA am Ende der Seite eine Genderübersicht, in der für Produktions- und Drehbuchförderung getrennt aufgelistet wird, wie viele Einreichungen und Förderungen es für Projekte mit beteiligten Regisseurinnen und Produzentinnen bzw. Autorinnen es gibt. Was außer Acht bleibt sind die Inhalte, die Figuren der Filme.
Neben 8 geförderten fiktionalen Projekten gibt es 2 Dokumentarfilme, die Drehbuchförderung erhalten, einer über Wau Holland, den Computer-Aktivisten und Mitgründer des Chaos Computer Clubs und einen über den historischen Gebäudekomplex Uffizien in Florenz / Italien.
Die folgende von mir angefertigte Übersicht zeigt die fiktionalen Projekte unter Hervorhebung der in den Kurzbeschreibungen genannten Hauptrollen. Es ist auffällig, dass bereits hier die männlichen Figuren eindeutig überwiegen (12 zu 3).
Die ,fünfköpfige Therapiegruppe‘ bezeichne ich als neutral, da es keine weiteren Angaben gibt. Theoretisch ist es möglich wenn auch relativ unwahrscheinlich, dass die Adaption von BERLIN ALEXANDERPLATZ eine Protagonistin hat. Beide von Frauen geschriebenen Projekte haben nur männliche Hauptfiguren.


Ich möchte anregen, dass die FFA auch die Zusammensetzung des Hauptcasts in die Genderübersicht aufnimmt. Solange das nicht passiert wird nur das halbe Bild gezeichnet. Mag ja sein, dass es bald 50 % Filme von Regisseurinnen und Autorinnen sein werden, und vielleicht wird die dritte filmbestimmende Position – Kamera – auch noch in das Monitoring aufgenommen. Aber können wir uns dann zurücklehnen? Was ist, wenn alle nur Geschichten von Männern erzählen? Oder wenn es zwar auch weibliche Hauptrollen gibt, aber nur in überwiegend männlichen Hauptcasts? Hollywood hat mit DAS ERWACHEN DER MACHT und ROGUE ONE gezeigt, wie das geht (Die Empirie schlägt zurück – Star Wars).

NEROPA funktioniert übrigens nicht nur bei Filmproduktionen und in der Stoffentwicklung, sondern  auch bei der Zusammenstellung von Arbeitsgruppen, Vorständen, Podien, Talkshows, Regierungskabinetten, Wahllisten und mehr. Aber das ist ein Thema für einen anderen Tag.

Epilog: Schiffe, die sich nachts begegnen

Wieder einmal schreibe ich tage- und nächtelang an einem Artikel. Zwischendurch kommt die Meldung eines neuen Kommentars zum Artikel Augen auf – Stereotype, der erstens mich sehr gefreut hat und zweitens einen Absatz enthält, der perfekt zum Neropen passt. Krissi schreibt:

(…) Ich schreibe seit ein paar Jahren selber Ideen für Filmszenen, etc. auf und habe bei vielen Rollen gemerkt, dass ich mir gar nicht sicher bin, welches Geschlecht diese Person ist, die ich da charakterisiere. Ist nicht wichtig für die Szene und ich kann mir da oft ganz unterschiedliche Menschen für vorstellen. Ich benenne also fast alle in meinen Aufzeichnungen Mensch 1, Mensch 2 oder Person 1, Person 2 usw. Bei Personen, bei denen das Geschlecht relevant für die Szene ist, schreib ichs in Klammern dazu. Die Gedanke von NEROPA ist nach meiner Erfahrung sinnvoll und absolut unterstützenswert. Weiter so!

Herzlichen Dank, Krissi, für dieses wunderschöne Schlusswort.

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