Am Sonntagabend 15. September lief der erste ,neue’ TATORT nach der Sommerpause. Er kam aus Wien und ich habe ihn nicht gesehen. Aber er erinnerte mi ch daran, dass ich normalerweise zur Sommerpause eine statistische Aufarbeitung der ersten TATORTE des Jahres anfertige. Diesmal machte ich mir einen Spaß und veröffentlichte den 6-Gewerke-Check ohne Gewerkenennung (Im 6-Gewerke-Check wird der Frauenanteil, meistens für Regie, Drehbuch, Kamera, Ton, Schnitt und Musik ermittelt). Und so sah der aus – wollt Ihr mal raten?
Ich wurde mehrfach gefragt, ob ich noch einen ausführlicheren Blogeintrag dazu mache. „Klar doch, ist schon fast fertig!“ antwortete ich. Haha. Stimmte gar nicht. Aber jetzt:
6-Gewerke-Check für die ersten 17 TATORTE 2024
Die 17 TATORTE aus der ersten quasi Jahreshälfte spielen in 15 der aktuell gefühlt 52 TATORT-Städte. Köln und München waren zwei mal Schauplatz. 2022 und 23 waren es übrigens jeweils 23 neue TATORTE bis zur Sommerpause. Laut kino.de hing das mit den sportlichen Großereignissen diesen Sommer zusammen. Ob vorsorglich letztes Jahr weniger TATORTE produziert wurden als sonst wurde nicht vermerkt.
Es gab dieses Jahr noch keinen Wiesbaden-TATORT. Die Fälle um Kommissar Murot (Ulrich Tukur) und ihre Umsetzung spalten die Krimicommunity, wo aber ziemliche Ein(seit)igkeit herrschen dürfte ist in der Jobvergabe für die sechs betrachteten Gewerke:
In zehn von zwölf Fällen 2010 bis 2023 gab es Straight Flushs, lediglich zwei Mal (DAS DORF vom 4.12.11 und SCHWINDELFREI vom 8.12.13) findet sich eine Frau, die Editorin Ulrike Hano. Wobei, „findet sich“ ist etwas unpassend. Denn auf der ARD-Webseite wird die Schnitt-/Montageposition nie genannt. Und auch Filmportal und Crew United helfen nicht weiter, beide nennen für DAS DORF lediglich den Schnittassistenten. Filmportal erweist sich für SCHWINDELFREI beim Schnitt als namensfrei, und Crew United führ eine Schnittassistentin und eine „additional Editorin“, die aber dieselbe Frau sein dürften. Nur IMDB liefert mehr Infos, sogar Hanos Spitznamen:
Schwindelfrei: Editing by Ulrike Hano (as „Mücke Hano“)
Um es deutlich zu formulieren, die Wiesbaden-TATORTE hatten bis zu diesem Zeitpunkt noch nie eine Regisseurin, nie eine Drehbuchautorin, nie eine Kamerafrau, nie eine Tonmeisterin und nie eine Komponistin. Fällt das niemandem auf, oder ist das gewollt?
Vergesst diese Fragen, denn um Wiesbaden soll es heute gar nicht gehen, die Stadt kommt in der untersuchten TATORT-Gruppe nicht vor.Also zurück zu den 17 erstausgestrahlten TATORTE 2024 bis zur Sommerpause, diesmal mit Gewerknennung:
Wie schon zuvor im Rätsel gesehen, einmal reicht ein Frauenanteil über 50 % (Schnitt) aber kein anderer Wert höher als 35 %. Das sah letztes und vorletztes Jahr überwiegend besser aus.
Und ich fürchte, dass die Zahlen für das Gesamtjahr 2024 noch schlechter sein werden als jetzt zur Halbzeit, denn das war auch 2022 und 2023 der Fall.
Doch eine gute Nachricht
Ja, der Anteil der Filmtonmeisterinnen bis Sommer 2024 liegt bei 17,3 %. Konkret heißt das, dass drei TATORTE eine Filmtonmeisterin beschäftigten, die anderen 14 einen oder zwei Männer. Da mich das besonders freut seien sie hier speziell erwähnt:
- Hamburg-Tatort WAS BLEIBT vom 1.1.24: Corinna Zink
- Wien-Tatort DEIN VERLUST vom 10.3.24: Theda Schatterdecker
- Bremen-Tatort ANGST IM DUNKELN vom 1.4.24: Tina Dobbertin
Zufall? Eine Trendwende? Wer weiß. Nicht überraschend ist, dass zwei dieser TATORTE eine Regisseurin hatten, die ja oft für mehr Frauen in den übrigen fünf Gewerken stehen. Aber es ist oft auch nicht ihre Entscheidung, wie weiter unten erläutert wird.
#2von6 Erste TATORT-Runde 2024
Neben dem 6-Gewerke-Check untersuche ich meistens auch den #2von6-Index, der anzeigt in wie vielen der sechs Gewerke eine Frauenbeteiligung gegeben ist (blau gestreift in der Darstellung), – für einen Film oder auch für eine Gruppe von Produktionen. Die relevante Größe sind hierbei zwei Gewerke. Das entspricht in etwa dem Proporz von Filmfrauen und -männern die in diesen sechs Bereichen arbeiten. Wie die folgende Abbildung zeigt, waren in mehr als der Hälfte der 17 Tatorte gar keine Filmfrau beteiligt oder nur in einem Gewerk (rosa gestreift in der Darstellung) – und das eine Gewerk war meistens der Schnitt:
Das ist auch wieder eine Verschlechterung gegenüber dem Vorjahr, wie die nächsten beiden Abbildungen zeigen:
8 von 23 (bis zur Sommerpause) bzw. 13 von 36 Filmen (bis zum Jahresende) erreichten 2023 die zwei Gewerke mit Frauenbeteiligung-Marke nicht. Oder positiv ausgedrückt: 15 von 23 bzw. 23 von 36 Filmen erreichten oder übertrafen die Marke, das waren immer deutlich mehr als die Hälfte der Filme. Dieses Jahr war es weniger als die Hälfte.
Ich habe mehrfach vorgeschlagen, dass jede Produktion, die öffentliche Gelder erhält, mindestens #2von6 erfüllen muss. Warum? Es gibt viele Gründe, künstlerische, arbeitsatmosphärische, inhaltliche – die sind aber teilweise Ansichtssache. Und es gibt etwas, das wir Repräsentanzpolitik nennen können. Beziehungsweise wir können die Frage auch ganz schnöde finanziell betrachten:
(…) es ist nun mal so, dass TATORTE die höchsten Budgets haben, vermutlich die höchsten Gagen und Honorare zahlen (zumindest für einen Teil von Stab und Besetzung), gewisse inhaltliche Freiräume erlauben, per so von großen Publikums gesehen werden, einfach weil TATORT draufsteht, was sich karrierefördernd auswirken kann – und das allein ist schon ein Grund, warum sie nicht nur Männern vorbehalten bleiben sollten. (TATORTE 2023: The Michael Gaze)
Aber es muss gar nicht bis zu einem entsprechenden Auftrag der Politik z.B. über das FFG oder der Sender / Rundfunkräte gewartet werden. Schon jetzt können Redaktionen oder Produktionsfirmen freiwillige Selbstverpflichtungen beschließen. Und (weibliche und männliche) Filmschaffende, besonders in Positionen mit Einfluss, können sich dafür stark machen, dass mehr Filmfrauen auf diesen zentralen Positionen arbeiten. Das scheint auch zu passieren, Produktionen mit Regisseurinnen haben in der Regel höhere #2von6-Werte. Aber auch Männer sollten sich hierfür einsetzen.
Und wenn #2von6 eine Pflichtvorgabe wird kann es natürlich trotzdem weiter Produktionen wie die Wiesbaden-TATORTE geben, nur irgendwann nicht mehr durch Steuergelder finanziert. Der nächste Wiesbaden-Fall wird übrigens voraussichtlich am 20.10. gesendet. Buch, Regie, Kamera, Ton und Schnitt wieder fest in Männerhand. Zur Musik habe ich noch keine Angaben gefunden.
Weitere Stadtansichten
Köln TATORTE
Ich schrieb eingangs, dass u.a. Köln mit zwei Fällen vertreten ist: PYRAMIDE (14.1.24) und DIESMAL IST ES ANDERS (28.4.24). Auf den zwei Mal sechs Positionen arbeiteten 11 Männer und 1 Frau. Das passt allerdings ins Landschaftsbild der Köln TATORTE:
Wobei immerhin, es gibt 7 Regisseurinnen, die insgesamt 11 Fälle inszenierten. Torsten C. Fischer kommt nur auf 8 Fälle. Sebastian Ko sogar nur auf 4.
Was die Drehbücher betrifft ist Jürgen Werner der Spitzenreiter, er sich hat 8 Fälle ausgedacht seit 2011, sein erster von insgesamt ichweißnichtwievielen Fällen wurde am 27. Januar 2008 ausgestrahlt, der hieß VERDAMMT. Doch, natürlich hab ich gezählt wie viele: es sind insgesamt 12, wovon er ein Buch, SCHMALE SCHULTERN (12.9.20) gemeinsam mit Stephan Wuschansky und Ulrich Brandt schrieb.
Das Duo Jan Martin Scharf und Arne Nolting (oder auch Arne Nolting und Jan Martin Scharf) hat 2011 bis heute 4 Kölngeschichten erfunden, u.a. den Tatort PYRAMIDE, bei dem Charlotte Rolfes Regie führte. Ich habe sie gefragt, wie die übrigen Positionen besetzt wurden, sie schrieb mir:
Drehbuch gab es schon – klar.
War aber eine sehr schöne Zusammenarbeit dann…
Kamera, Schnitt und Musik hab ich in Abstimmung mit Jan „besetzt“.
Ton war ein Vorschlag der Produktion bzw. Des pl.
*Jan ist Jan Kruse, Produzent der Bavaria und der Köln TATORTE.
pl = Produktionsleiter Alexander Viering.
Dagegen ist nichts einzuwenden, auch nicht, dass sie sich nur für Filmmänner entschieden haben. Gleichzeitig spricht vieles dafür, das nicht immer automatisch (?) zu machen, sondern gezielter nach Filmfrauen zu suchen und diese in die TATORT-Crews zu holen, bzw. dafür vorzuschlagen.
Charlotte Rolfes hat Anfang dieses Jahr ihren zweiten Tatort inszeniert, im siebten Monat schwanger (wovon sie u.a. in unserem Gespräch „Zähne Zusammenbeißen wird überbewertet“ erzählte). Das Drehbuch von COLONIUS, der 2025 ausgestrahlt wird, stammt von Eva und Volker Zahn. Kamera (Rainer Lipski) und Schnitt (Ramin Sabeti) stehen auch schon fest – bleibt zu hoffen, dass es eine Filmtonmeisterin und eine Komponistin gab.
Bevor ich gleich noch die eher desolaten 6-Gewerke-Checks für vier weitere Städte – München, Münster, Kiel und Dortmund – vorstelle hier ein kleiner Exkurs nach Niedersachsen:
Hannover / Göttingen TATORTE
Ich habe nicht alle meine 52 Tatort-Schausplätze-Statistiken auf dem neusten Stand gebracht, deshalb ist das jetzt ohne Gewähr. Aber es sieht so aus, als ob die Hannover / Göttingen TATORTE von 2011 bis heute den deutlich höchsten Kamerafrauenanteil und einen der höchsten Regisseurinnenanteile haben. Das ist bemerkenswert. Wie kommt das zustande? Und (was) hat es für Auswirkungen auf den Film? Und warum geht das in Hannover / Göttingen aber nicht beispielsweise in Köln? Liegt es an den Redaktionen? Den Produzent:innen? Oder an der Hauptdarstellerin (Maria Furtwängler als Ermittlerin Charlotte Lindholm)?
Auf den zweiten Blick sieht es schon nicht mehr so rosig aus. Bzw. gerade. Denn, und das habe ich bereits mehrfach kritisiert, es gibt nur sehr selten Autorinnen, die die Fälle für Charlotte Lindholm erfinden. Und wenn dann nicht alleine – die vier Lindholm-Fälle mit Autorinnenbeteiligung wurden von Frau–Mann-Teams geschrieben. Wie viel kann eine Regisseurin, eine Kamerafrau noch retten, wenn der Plot von Klischees und male gaze-Vorlagen strotzt? Wäre der letzte Göttingen-TATORT den ich sah – DIE RACHE AN DER WELT, 9.10.22, Buch Daniel Nocke, Regie Stefan Krohmer, Kamera Patrick Orth, Ton Maarten van de Voort, Schnitt Boris Gromatzki, Musik Carsten Meyer – über den ich schon einmal geschrieben habe – weniger unerfreulich gewesen mit einer Frau hinter der Linse oder auf dem Regiestuhl?
Ich finde Drehbücher den zentralen Dreh- und Angelpunkt, auf jeden Fall bei TATORTEN. Und vielleicht ist das der Grund, warum diese Männerbastion nicht aufgegeben wird, auch wenn auf einmal mehr, auch jüngere, Frauen Regie machen (dürfen).
Erstaunlich übrigens, dass bei einem gut wirkendem 6-Gewerke-Check wie Hannover/Göttingen auch nur 50% der Fälle das 2von6-Kriterium erfüllen. Die Drehbücher habe ich erwähnt, und wir dürfen auch nicht die haarsträubenden Frauenanteile für Ton und Musik übergehen, und die für TATORTE doch recht niedrigen Editorinnenanteile.
Also letztlich das gleiche Problem, das ich seit Jahren beschreibe: es reicht nicht, den Fokus auf ein oder zwei Gewerke zu legen (in diesem Fall Regie und Kamera). Ich nenne das den WIPPE-Effekt: Als die TATORT-Redaktionen und -Produktionen auf einmal, sicher auch durch den Druck von Pro Quote Regie angestoßen, Frauen Regie führen ließen sank der Autorinnenanteil rapide, und als der sich etwas erholte ging Kamera noch weiter in den Keller.
Von geschlechterausgewogenen Crews sind alle TAT-Orte noch sehr weit entfernt. Ich denke von alleine wird sich das auch nicht ändern. Also wie wäre es mit einer freiwilligen #2von6-Verpflichtung?
Traut Euch, bitte!
Die Hauptdarsteller:innen haben eine gewisse Macht, ebenso die Stamm-Regisseure und noch einige andere. Gebt Euch einen Ruck und sagt, dass Ihr nur für eine TATORT-Produktion arbeitet, die #2von6 erfüllt und die das Drehbuch noch einmal bezüglich Stereotypen, Geschlechterklischees, Gewaltverharmlosung u.a.m. gegenlesen lässt. Ihr macht Euren Einfluss geltend für höhere Gagen (für Euch oder für die ganzen Teams?), Ihr nehmt sicher auch ab und an Einfluss auf die Jobvergabe der Crew und die Drehbücher. Da ist mehr möglich.
München, Münster, Kiel und Dortmund TATORTE
Der Artikel ist schon lang genug, deshalb im Schnellverfahren und für die die es interessiert bzw. interessieren sollte der 6-Gewerke-Check für vier TATORTE mit Kommissaren bzw. Kommissarduos im Zentrum. Und bloß weil wir solch rosalastige Säulendiagramme ständig sehen (vor allem wenn Ihr meinem Blog folgt bzw. meine Analysen studiert) heißt das nicht, dass wir uns daran gewöhnt haben dürfen.
Die vier Standorte sind jetzt nicht ganz so schlimm wie Wiesbaden, aber das ist spontan auch das einzige, was mir zu dieser geringen Repräsentanz von Regisseurinnen, Autorinnen, Kamerafrauen, Filmtonmeisterinnen und teilweise auch Komponistinnen einfällt. Münster hat noch den niedrigsten Autorenanteil mit 77,8 %, was daran liegt, dass von den letzten 7 erstaufgeführten Münster-TATORTEN 4 von Frauen stammten* (darunter zwei von Regine Bielefeldt, die gerade ihr 3. Münster-Buch geschrieben hat), also – gewollt oder zufällig – quasi eine alternierende Vergabe stattfand.
*Und, war das schlimm? Ich habe jedenfalls nicht gehört, dass die Münster-TATORTE einen ,Qualitäts-‚ oder ,Quoteneinbruch‘ hatten (wobei ich vom Stieren auf die Einschaltquoten sowieso nichts halte, aber das ist ein anderes Thema).
Was die anderen drei TAT-Orte betrifft: in einem Mangel an deutschsprachigen Autorinnen ist das Problem der Männerbücher jedenfalls nicht begründet.
Frankfurt TATORTE
Der neue TATORT am kommenden Sonntag (29.9.) heißt ES GRÜNT SO GRÜN WENN FRANKFURTS BERGE BLÜH’N. Es ist der 19. mit dem Ermittlungsduo Anna Janneke und Paul Brix (Margarita Broich und Wolfram Koch). Mit diesem Fall sieht der Frankfurter 6-Gewerke-Check so aus:
Das ist der höchste Autorinnenanteil von allen Städten die ich heute analysiert habe, über neun Jahre.
Der Fall ist gleichzeitig der letzte von Brix und Janneke. (Buch Michael Proehl und Dirk Morgenstern. Proehl hatte auch ihren ersten Fall des Duos KÄLTER ALS DER TOD vom 17.5.15 erdacht).
Wie wird ihr Ende sein?
Stirbt mal wieder jemand gewaltvoll, zum Beispiel die Ermittlerin, in den Armen ihres Lieblingskollegen – gerade als die Beiden zarte Bande spinnen? So wie in Dortmund und Berlin: (Martina) „Bönisch stirbt in Fabers Armen“ (LIEBE MICH!) bzw. „Nina Rubin stirbt in Karows Armen“ (DAS MÄDCHEN DAS ALLEIN NACH HAUS GEHT) – siehe auch TATORTE 2022 eine gemischte Zwischenbilanz.
Oder treten sie kommentarlos ab wie Ellen Berlinger in Freiburg (AUS DEM DUNKEL)? Werden sie aufgrund irgendwelcher Vergehen entlassen wie Mario Kopper (KOPPER)? Kündigen sie, oder suizidieren sich gemeinsam? Wandern sie aus? Sterben sie an einer Lebensmittelvergiftung in der Polizeikantine?
Ich kann sagen, dass ich den TATORT schon gesehen habe, ich kenne also das Ende. Aber ich möchte hier niemandem die Überraschung verderben.
Apropos Aufhören: München
Das München Ermittlungsduo Batic und Leitmayr – Miroslav Nemec (geb. 1954) und Udo Wachtveitl (geb. 1958) – haben seit 1991 in über 90 Fällen ermittelt. Das sind 33 Jahre als Kommissare, und noch viel mehr bei der Polizei. Es heißt, der 100. Fall wird ihr letzter sein.
Was ich erstaunlich finde ist, wie relativ unbeschwert sie von vermutlich 40 Jahren Berufstätigkeit bei der Polizei (geschrieben) sind. Ich weiß, dass TATORTE mit tatsächlicher Polizeiarbeit ebenso wenig zu tun haben wie die SISSI Filme mit Romy Schneider und Karlheinz Böhm mit historischen Fakten. – Und der Vergleich ist gar nicht mal so schlecht, denn die Fangemeinden beider Formate sind ähnlich eingeschworen und das Filmgucken ein Ritual.
Und vielleicht ist das auch einer der vielen Gründe, warum ich mit TATORTEN so wenig anfangen kann. Ich habe öfter an deutschen Krimis kritisiert, dass die Opferperspektive fast nie vorkommt geschweige denn im Mittelpunkt steht, dass die Angehörigen, die völlig unerwartet einen womöglich geliebten Menschen verloren haben, unwichtig sind, im Grunde ebenso wie die Ermordeten selbst. Denn es geht – und das ist der Fortsetzungsmoment – im Grunde (auch? in erster Linie?) um die Kommissare und Kommissarinnen. Wer erinnert den Dortmunder Fall nach dem o.g. Tod von Bönisch? Aber wer erinnert, wie sehr der nun vollbärtige und ungepflegte Kollege Faber danach litt?
Wie viele andere Jobs kann auch jahrzehntelange Polizeiarbeit erschöpfen, und die regelmäßige Konfrontation mit Gewalttaten, mit Verbrechern, mit den Grenzen von Ermittlung und Gerechtigkeit mürbe machen. Was haben 40 Jahre Polizeiarbeit bei Batic und Leitmayr angerichtet? Sind sie alle und berufsmüde, oder weiter froh und munter, und wechseln einfach so im nächsten Jahr mal eben in den Ruhestand?
Die britische ITV-Serie UNFORGOTTEN (Creator und Autor: Chris Lang) geht mit dieser Thematik anders um. DCI Cassie Stuart, gespielt von Nicola Walker, war seit Beginn der Serie 2015 dabei. Jede Staffel behandelt in sechs 45-minütigen Folgen einen Cold Case. Nach 4 Staffeln stirbt Cassie (51), die allerdings schon nach der dritten Staffel in den Vorruhestand gewechselt hatte, weil die Fälle, die Verbrecher, das Leid für die Angehörigen sie nicht mehr los ließen. Zu Beginn der vierten Staffel kam raus, dass ihr noch ein paar (30 oder so?) Arbeitstage fehlten um ihre ungeminderte Berufsrente zu erhalten, also kommt sie notgedrungen, weiterhin merklich ausgebrannt und bitter, für einen letzten Fall zurück. Das Ende spielt wie immer auf einem Friedhof, diesmal an Cassie’s Grab. Da in den vier Staffeln nur vier Fälle behandelt wurden nehmen die Opfer und Angehörigen deutlich größeren Raum ein, und die Fälle lassen Cassie und auch ihre Kolleg:innen (und das Publikum?) nicht so leicht los.
Eine andere ITV-Krimiserie, SCOTT & BAILEY, hab ich schon mehrfach erwähnt. Die Oberchefin DCI Gill Murray (Amelia Bullmore) wird in einer Folge Opfer einer dramatischen Entführung, die glimpflich ausgeht. Aber sie ist in ihren Grundfesten erschüttert, verliert ihr Selbstvertrauen und bittet schließlich darum, in den Vorruhestand versetzt zu werden. Das war in der vorletzten Staffel. Und da war sie 50, also sehr viel jünger als die beiden Münchner Ermittler.
Das war’s für heute
Soviel zu meiner kleinen TATORTE Halbzeitbilanz. Vermutlich Anfang 2025 bespreche ich die Statistiken für alle 2024er Fälle und werde eventuell auch auf Inhalte und Klischees der Filme eingehen. Mal sehen.
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Alle Zahlen ohne Gewähr.
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NACHTRAG 3.10.24:
Ich bin tatsächlich von mehreren Leser:innen gefragt worden, warum es diesmal keine längere Übersicht der Entwicklung in den sechs Gewerken gibt. Stimmt. Deshalb an dieser Stelle zwei Abbildungen nachgereicht:
Ein 6-Gewerke-Check 2016 bis Sommerpause 2024, und ein 3-Gewerke-Check (nur Regie, Drehbuch und Kamera) für denselben Zeitraum.