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Gedanken einer Schauspielerin

Rosige Zeiten für Männer bei den NDR-Prime-Time-Krimis

Ich wurde eingeladen, für den aktuellen Rundbrief des Film & Medienbüro Niedersachsen eine Untersuchung von NDR-Krimis anzufertigen. Mit freundlicher Genehmigung hier ein Abdruck des Artikels (S. 25-27).

Titel Rundbrief des  Film und Medienbüros Niedersachsen

NDR-Prime-Time-Krimis

Der Frauenanteil in den Gewerken und im Cast liegt deutlich unter 50%

Anfang Mai überraschte der NDR mit der Meldung, dass der aktuell in Norddeutschland gedrehte Tatort SCHATTENLEBEN besonders divers ist, vor und hinter der Kamera. So seien 17 Prozent der Beteiligten BIPoC (Black, Indigenous und People of Colour), und 65 Prozent der Headpositionen weiblich besetzt. Der NDR und die Produktionsfirma Wüste Medien GmbH wenden erstmalig den sogenannten Inclusion Rider an. Die Initiative kam von Regisseurin Mia Spengler. Ziel des aus Hollywood stammenden Konzepts ist eine möglichst vielfältige Besetzung von Stab und Cast.

Der NDR setzt schon seit vielen Jahren auf Diversität vor der Kamera. Wir glauben an die Vielfalt im Ganzen (…)„, sagte Fernsehfilmchef Christian Granderath in der eingangs erwähnten Pressemitteilung. Das gilt leider nicht für die Prime-Time-Krimis des NDR der letzten Jahre, zumindest nicht, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht. Weder vor noch hinter der Kamera.

Ich habe die Frauenanteile für die sechs Gewerke Regie, Drehbuch, Kamera, Ton, Schnitt und Musik von vier Fernsehreihen mit 90-minütigen Krimis aus dem Hauptprogramm analysiert: NORD BEI NORDWEST, den USEDOM-KRIMI, die NDR TATORTE und den NDR POLIZEIRUF 110. Untersuchungszeitraum ist 2017 bis 2020. Anfang 2017 erschienen die beiden großen Studien der FFA und von ARD und ZDF („Gender und Film“ und „Gender und Fernsehfilm“), spätestens da sollte der Branche klar geworden sein, dass es eine deutliche Genderschieflage vor und hinter der Kamera gibt und dringender Handlungsbedarf besteht.

Die Reihe NORD BEI NORDWEST läuft seit 2014. Von 2017 bis 2020 gab es neun Filme. Die folgende Abbildung zeigt die prozentualen Männeranteile in rosa und die Frauenanteile in hellblau:

Frauen- und Männeranteil 6 Gewerke, NORD BEI NORDWEST 2017-20

Zweimal inszenierten RegisseurinnenDagmar Seume (ESTONIA, 2017) und Nina Wolfrum (EIN KILLER UND EIN HALBER, 2020). Editorinnen kamen bei einem Drittel der Filme zum Einsatz. Es gab noch nie eine Tonmeisterin oder eine Komponistin bei diesem Format. Die Musik stammte immer von Stefan Hansen. Der gefragteste Tonmeister ist der Niederländer Marteen van de Voort, der 2017 bis 20 allein siebenmal auf dieser Position arbeitete. Eeva Fleig war die einzige Kamerafrau (WAIDMANNSHEIL, 2018). Sämtliche Drehbücher für dieses Format stammen von Niels Holle und noch häufiger von Holger Karsten Schmidt, der auch das Format entwickelt hat. Von einer signifikanten Teilhabe von Frauen in den kreativen Positionen kann also nicht gesprochen werden.

Nicht ganz so schlecht aber bei weitem nicht akzeptabel ist die Situation bei den TATORTEN. Der NDR verantwortet vier: Hannover / Göttingen seit 2002 bzw. 2019 mit Maria Furtwängler und Florence Kasumba (seit 2019), Kiel seit 2003 mit Axel Milberg und Maren Eggert (2003-10), Sibel Kekilli (2011-17) bzw. Almila Bagriacik (seit 2018), Hamburg seit 2013 mit Til Schweiger und Fahri Yardim, und schließlich Norddeutschland seit 2013 mit Wotan Wilke Möhring und Petra Schmidt-Schaller (bis 2015) bzw. Franziska Weisz (seit 2016).

Keine Autorin schrieb eine Pilotepisode, das heißt die Kommissar*innen, das Hauptpersonal, Stimmung und Setting wurden von Männern kreiert bzw. vorgegeben. Von den 2017 bis 2020 erstausgestrahlten 18 NDR TATORTEN wurde keiner von einer Autorin geschrieben. Es gab lediglich vier Bücher, an denen Autorinnen in Teams beteiligt waren. Die Frauenanteile für Drehbuch, Regie und Kamera liegen zwar 3-4 % über denen für alle 145 TATORTE im gleichen Zeitraum, aber immer noch deutlich unter den jeweiligen Frauenanteilen an den Filmhochschulen, d.h. dem Potenzial in diesen Bereichen. Den größten Unterschied zwischen den NDR-TATORTEN und allen TATORTEN 2017-20 gab es im Schnitt: der Editorinnenanteil NDR beträgt 35 %, der für alle Standorte 65,9 %.

Der einzige NDR POLIZEIRUF 110 ist der Rostocker, mit Charly Hübner und Anneke Kim Sarnau. Er wurde von Eoin Moore entwickelt, die erste Folge lief 2010.

NDR Polizeiruf 2017-20

2017-20 gab es in allen acht Filmen keine Regisseurin, keine Tonmeisterin (das machte jedes Mal Thorsten Schröder), keine Komponistin. Ein Drehbuch wurde von einer Autorin geschrieben, Susanne Schneider (ANGST HEILIGT DIE MITTEL, 2017), zwei weitere waren in Teams dabei, Anika Wangard mit Eoin Moore (FÜR JANINA, 2018), und Christina Sothmann mit Lars Jessen (KINDESWOHL, 2019). So ist der Frauenanteil in diesem Gewerk mit 27,3 % fast doppelt so hoch wie bei den NDR-TATORTEN.

Die vierte Reihe, der USEDOM-KRIMI, ist die einzige, die mit Frauenbeteiligung entwickelt wurde. Die erste Folge 2014 schrieben Scarlett Kleint, Alfred Roesler-Kleint und Michael Ilner (ab 2015 als Michael Verschinin). 2017 bis 2020 entstanden vier 90-Minüter, die nur von Autorinnen geschrieben wurden, drei von Marija Erceg und einer von Dagmar Gabler. Dazu kommen fünf Bücher von gemischten Teams. Nur ein Buch wurde ohne Frauenbeteiligung geschrieben (SCHMERZGRENZE 2020, von Michael Verschinin). Insgesamt macht das einen Frauenanteil von 47,4 % im Drehbuch.

Einziger Komponist dieser Reihe ist Colin Towns, beim Ton gab es mehrere Tonmeister. Maris Pfeiffer ist die einzige Regisseurin in diesem Format (SCHMERZGRENZE, 2020). Ich finde es bedauerlich und auch nicht ganz nachvollziehbar, warum keiner der von Frauen geschriebenen USEDOM-KRIMIS von einer Frau inszeniert wurde, und dass nur einmal eine Kamerafrau fotografierte, die US-Amerikanerin Leah Striker bei TRÄUME (2019).

Die nächste Abbildung zeigt die Frauen- und Männeranteile der Hauptcasts, d.h. den auf der ARD-Webseite veröffentlichten Rollen und Darsteller*innen. Drei Formate haben ein gutes Drittel Frauenrollen, nur der USEDOM-KRIMI erreicht 45 %. Ein höherer Frauenanteil bedeutet mehr weibliche Figurenvielfalt und auch eine größer mögliche Diversität dieser Rollen, ist also Grundvoraussetzung für ein wirklichkeitsnäheres Abbild unserer Gesellschaft und daher unbedingt erforderlich.

Hauptcasts 4 NDR-Krimis 2017-20

2020 und 2021 wurden im NDR auch zwei Fernsehkrimi-Miniserien ausgestrahlt: DAS GEHEIMNIS DES TOTENWALDES (2020), drei mal 90 min bzw. sechs mal 45 min und DIE TOTEN VON MARNOW (2021, nordmediagefördert), 8 Folgen à 45 min, als Doppelfolgen ausgestrahlt. Diese Miniserien sind nicht wirklich mit den anderen vier Reihen vergleichbar, da sie jeweils einen Fall erzählen und nicht abgeschlossene Geschichten in jeder Folge. Insofern ist nachvollziehbar, dass es keine Veränderungen im Team gab.

Weniger nachvollziehbar ist, warum die Frauen fehlen. Die sechs rosa Säulen der TOTEN VON MARNOW sprechen eine eindeutige Sprache, und nur Julia Karg und Kai Minierski als Editor*innenduo ersparen dem GEHEIMNIS DES TOTENWALDES ein gleiches Schicksal.

Frauen- und Männeranteile 6 Gewerke: DAS GEHEIMNIS VOM TOTENWALD

Man ist an BABYLON BERLIN erinnert, dessen Frauenabsenz in den Hauptgewerken – mit all ihren negativen Auswirkungen – übersehen, ignoriert oder bewusst gewollt war. Natürlich können Männer gemeinsam und alleine eine Krimiserie drehen, warum nicht? Die Frage ist nur, ob das 2020 und 2021 tatsächlich noch zeitgemäß ist für öffentlich-rechtliches Fernsehen, zumal wenn der in diesem Fall beteiligte Sender NDR an die „Vielfalt im Ganzen“ glaubt.

Weswegen reine Männercrews ungünstig sind möchte ich an einer Szene aus den TOTEN VON MARNOW thematisieren. Die Kriminalhauptkommissarin Lona Mendt (Petra Schmidt-Schaller) wurde gerade von Bernd Peters (Jörg Schüttauf) in ihrem Wohnwagen brutal niedergeschlagen, und liegt bäuchlings halb über einen Tisch. Der Blick des Täters fällt auf ihren in dünne Shorts gekleideten Hintern, der im Closeup gezeigt wird. Daraufhin beschließt Peters, sie auch noch zu vergewaltigen. Dass so ihr Körper als Auslöser gedeutet werden kann ist gefährlich und bedient uralte, längst überwunden geglaubte Klischees „Ja, wenn sie doch so provokant gekleidet war...“. Ich weiß nicht, wie Holger Karsten Schmidt die Szene im Drehbuch geschrieben hatte, aber die Auflösung scheint weder dem Regisseur, noch dem Kameramann noch dem Editor unangenehm aufgefallen zu sein, es hat sie nicht gestört oder sie wollten es genau so.

Was tun?

Wie kann der Frauenanteil in den Gewerken erhöht werden? Über eine Diversitätsklausel, wie es beim eingangs erwähnten NDR TATORT gemacht wurde. Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein hat Diversity Checklists erarbeitet. Über diese werden geplante Vielfalt im Drehbuch, d.h. in der Handlung und den Rollen, und im Filmteam abgefragt. Ziel ist, die Antragsteller:innen „zur bewussten Beschäftigung mit dem Thema Diversität und zur kritischen Überprüfung des eigenen Handelns“ anzuregen. Die Verpflichtung besteht derzeit nur in der Beantwortung des Fragenkatalogs. Welche Konsequenzen es hat, wenn ein beantragtes Projekt zwar viele ethnisch diverse Rollen aufweist aber fast keine Frauenfiguren, und wenn hinter der Kamera keine Menschen mit Behinderung und keine über 50 mitarbeiten, ist nicht ersichtlich.

Im Sinne einer anzustrebenden Gendergerechtigkeit erscheint mein Modell „2 von 6“, unterstützt durch den Hebel öffentlicher Gelder, unkomplizierter und effektiver.

Der NDR kann heute beschließen, dass alle Produktionen in zwei der sechs genannten Gewerke eine Frau an der Spitze beteiligen müssen. Sonst kommt die Kooperation nicht zustande. Nicht drei Gewerke von sechs, denn der Frauenanteil in der Ausbildung dieser sechs Berufe liegt nicht überall bei 50%. (Laut der Studie „Gender und Fernsehfilm“ von 2017 absolvierten 51% Frauen im Bereich Schnitt, 48% im Bereich Drehbuch, 44% im Bereich Regie, 25% im Bereich Kamera und 11% im Bereich Ton). Sondern zwei Gewerke. Damit wird nichts Unmögliches von den Produktionen verlangt, die Schwelle ist niedrig. Es würden bereits zwei gemischte Teams, also z.B. ein Kompositions- und ein Drehbuchteam mit jeweils einer Frau dabei reichen. Oder eine Regisseurin, eine Kamerafrau und eine Editorin, denn mehr als zwei Gewerke sind natürlich auch möglich. Dass die sechs genannten Krimiformate hier noch viel verbessern können, sieht man auch daran, dass nur ein Drittel aller 45 Filme diese niedrige Linie erreicht, d.h. mindestens zwei Gewerke mit Frauenbeteiligung aufweist. Da ist noch viel Luft nach oben. Erst recht, wenn die Sender sich entscheiden sollten, dass für eine Finanzierung mindestens drei von sechs Gewerken Frauen beteiligen müssen, drei, als kleiner Ausgleich für die Jahrzehnte ohne Frauen.

Überlegungen zum Inclusion Rider

Ein Inclusion Rider – ich würde den Begriff mit „Diversitätsklausel“ übersetzen, ist nicht so sehr ein Tool als vielmehr eine Passage im Vertrag, eine festgeschriebene Absichtserklärung oder Zielvorgabe, die auch als Druckmittel funktioniert. So wie ihn Dr. Stacy Smith von der Annenberg School for Communication and Journalism an der Universität von Südkalifornien für die US-amerikanische Filmbranche entwickelt hat, können über diese Klausel Prominente, z.B. eine Schauspielerin oder ein Regisseur, ihre Teilnahme an dem Filmprojekt von der Erfüllung bestimmter Diversitätskriterien abhängig machen.

Der Inclusion Rider sah ursprünglich die Klausel vor, dass zum Bewerbungsverfahren für zehn Kernabteilungen jeweils mindestens eine Frau und ein/e Vertreter:in einer benachteiligten Gruppe eingeladen werden sollen. Wohlgemerkt, hier geht es noch nicht um die tatsächliche Beschäftigung.

Bei der Besetzung der kleinen, „drittrangigen“ Rollen, sprich Tagesrollen, sollte die Zusammensetzung der Bevölkerung berücksichtigt und sie möglichst paritätisch besetzt werden sollen. Das ist sinnvoll aber geht nicht weit genug. Warum nur bei kleinen Rollen?

Weil gute Absichten nicht reichen, was wir seit Jahren – nicht nur in der Filmbranche – sehen, ist es sinnvoll, gleichberechtigte Teilhabe und Diversität in den Fokus zu rücken und in Verträgen und Richtlinien festzuschreiben. Was die Umsetzung einer Diversitätsklausel allerdings voraussetzt ist die Zuweisung der Filmschaffenden in Kategorien. Und da wird das Ganze etwas problematisch.

Diversität ist mehr als die Hautfarbe, sie schließt Alter, Sexualität, Körperlichkeit und Aussehen, Behinderungen, Schwangerschaft, sozioökonomischen Hintergrund u.a.m. mit ein. Woher soll eine Produktionsfirma, eine Redaktion wissen, ob Kameramensch ABC homosexuell ist oder eine Behinderung hat, wenn es nicht irgendwo vermerkt ist? Soll auf dem Showreel ergänzt werden, dass die Bilder von jemanden gestaltet wurden, dessen Vorfahren aus Südeuropa, Nordafrika oder Ostasien kamen? Warum eine Behinderung bekannt machen, wenn sie die eigene Arbeitsleistung nicht beeinträchtigt? Warum die eigenen sexuelle Identität outen, wenn man – berechtigt oder unberechtigt – befürchtet, danach seltener beschäftigt oder am Set diskriminiert zu werden, oder das einfach für eine Privatsache hält?

Wollen wir, dass eine Produktion diese Daten ihrer potenziellen Mitarbeiter*innen – freiwillig – abfragt und sammelt? Würden so mehr Vielfalt und weniger Diskriminierung erreicht? Diese Fragen müssen dringend besprochen werden, um für mehr Vielfalt und Gerechtigkeit in der Filmbranche zu sorgen.

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