SchspIN

An Actress's Thoughts

TATORTE 2022 – Eine gemischte Zwischenbilanz

TATORTE 2022 – Eine gemischte Zwischenbilanz

  • Prolog: Polizeiruf 110
  • TATORTE hinter der Kamera: 6-Gewerke-Check
  • TATORTE hinter der Kamera: 2 von 6
  • TATORT-Städte im 6-Gewerke-Vergleich
  • Was fehlt?
  • Wer fehlt?
  • Wer leidet?
  • Wer stirbt?
  • TATORT-Fälle

    • Ludwigshafen
    • Göttingen
    • Kiel und Wiesbaden
    • TATORT-Programmbeschwerde von Pro Quote Film
  • Epilog

Schutz vor Verbrechen. Foto SchspIN

Prolog: Polizeiruf 110

Heute ist Sonntag der 30. Oktober, es ist kurz nach halb vier am Nachmittag. In den Nachrichten wird von über 150 Toten in Seoul / Südkorea nach einer Massenpanik bei einer Halloweenfeier berichtet. Abends gibt es diesmal keinen TATORT sondern einen POLIZEIRUF 110, der laut ARD-Webseite makabererweise – das konnte die Programmplanung nicht wissen – so beginnt:

Prolog, 30.10.22 Eine Frau wird nach dem Halloweenfest am Fuße des Brockens tot aufgefunden. (…) Die Leiche wurde verbrannt, auf einer Art Scheiterhaufen. Und schließlich stellt sich heraus, dass das Opfer gefoltert wurde – mit Methoden der mittelalterlichen Inquisition.

Der Film von Drehbuchautor Wolfgang Stauch hat den Titel HEXEN BRENNEN, wer die gefolterte und ermordete junge Tanja Edler spielt ist auf der ARD-Webseite und in den üblichen Filmdatenbanken nicht zu finden, sie scheint nur tot und nicht in Rückblenden zu sehen zu sein.

Ändert die ARD ihr Abendprogramm?

Stunden später: Nein, es gab keinen Brennpunkt, weder zu dem Unglück von Seoul, noch zu einer eingestürzten Fußgängerbrücke im Westen Indiens mit mehr als 130 Toten. Zu weit weg, nicht relevant? Im Gegensatz beispielsweise zur Trainerentlassung bei der Männerfußballabteilung von Bayern München am 27.4.09? Die war der ARD einen Brennpunkt wert, aber das ist ein anderes Thema.

Und HEXEN BRENNEN wurde um 20.15 Uhr ausgestrahlt. Vermutlich wie immer ohne Warnhinweis zur dargestellten beziehungsweise thematisierten schwerer Gewalt (ich habe den Film nicht gesehen).

TATORTE hinter der Kamera

Die gute Nachricht vorweg. Zur Sommerpause lag der Autorinnenanteil mit 40,6 % so hoch wie noch nie seit ich dieses einschaltquotenstärkste und teuerste ARD-Format analysiere (2011). Haben die Verantwortlichen meinen Aprilscherz 2021 (Gerechte Teilhabe: Ja es geht) als Challenge angenommen? Sind die Redaktionen durch meine jährlichen TATORT-Analysen und -kommentare nachdenklich geworden, hat der Druck Autorinnen-Initiative Tatort: Drehbuch gewirkt? Die Pussiwritas? Ein bisschen von allem und noch mehr?

Die nächste Abbildung zeigt den 6-Gewerke-Check für die 23 erstausgestrahlten Folgen vom 1.1. bis 26.6.22:

Wie Ihr in Noch mehr Morde: TATORT 2021 nachlesen, bzw. in der Abbildung 6-Gewerke-Check 2011-21 ganz unten im Text nachsehen könnt, das ist ein enormer Sprung. Der bisher höchste Autorinnenanteil 2011-21 war 28,3 % im Jahr 2016.

So, genug gefeiert. 6 TATORT-Ausstrahlungen später, das war letzten Sonntag, war der Wert um mehr als 6 Prozentpunkte gesunken, und in drei Wochen nach drei weiteren Fällen aus dem Schwarzwald, Münster und Dresden werden die Autorinnen nur noch ein Drittel (33,3 %) ausmachen. Gleichzeitig werden die Regisseurinnen die 40 %-Marke überschreiten mit 41,2 %. Die nächste Abbildung zeigt die Männeranteile in den vier Gewerken Drehbuch, Kamera, Ton und Schnitt zum 26.6., 23.10. und 20.11.22, hier wird verlorener männlicher Vorsprung teilweise wieder gutgemacht:

Für die Kameraheadposition ist die Entwicklung besonders enttäuschend, war der Frauenanteil 2021 noch 21,2 %, sinkt er zum Ende November auf 14,7 %

TATORTE hinter der Kamera: 2 von 6

Heute zeige ich eine vorläufige #2von6-Analyse, das Jahr und die neuen TATORTE sind ja noch nicht um.

Zur Erklärung: Mein #2von6-Vorschlag bedeutet, dass mindestens zwei der sechs Gewerke Regie, Drehbuch, Kamera, Ton, Schnitt und Komposition eine Frauenbeteiligung aufweisen müssen. Aus der folgenden Abbildung geht hervor, dass die Hälfte der 34 Fälle vom 1. Januar bis 20. November 22 in weniger als zwei Gewerken auch Frauen an der Spitze hatten. Auch, nicht ausschließlich. Umgekehrt: 17 Fälle erfüllen #2von6. Das ist zu wenig, denn so eine niedrige Grenze sollten alle Produktionen die von öffentlichen Geldern finanziert werden erreichen können.

Die nächste Abbildung zeigt eine Unterteilung nach Regisseurinnen und Regisseuren, diesmal als x von 5, denn das sechste Gewerk ist Regie, das sind sie selber.

Es wird deutlich, dass Produktionen mit einer Regisseurin zum größten Teil die #2von6-Grenze erreichen, dafür reicht ein weiteres Gewerk mit Filmfrauenbeteiligung.  Allerdings haben sogar 10 der 14 TATORTE zwei weitere Gewerke mit Filmfrauenbeteiligung, also drei insgesamt. Und SCHATTENLEBEN hatte neben Regisseurin Mia Spengler eine Autorin (Lena Fakler), eine Kamerafrau (Zamarin Wahdat), eine Tonmeisterin (Mary-Linn Preiß) und eine Editorin (Linda Bosch). Die Musik stammte von Marc Fragstein. Also nur drei Folgen, die unter #2von6-Grenze blieben und außer der Regisseurin keine weitere Frau hatten (KEHRAUS, SPUR DES BLUTES und EIN FREUND, EIN GUTER FREUND).

Bei den Regisseuren sieht es anders aus. Nur 5 der 20 Fälle hatten zwei Gewerke mit Frauenbeteiligung und erfüllten den #2von6 Anspruch. VIDEOBEWEIS (Regisseur Rudi Gaul) hatte drei Gewerke mit Frauenbeteiligung: Autor:innen Gaul und Katharina Adler, Editorin Saskia Metten und Komponistin Verena Marisa.

Es gibt noch einiges zu tun. Wie gesagt, es geht um öffentliche Gelder, und das bestbezahlte TV-Format der ARD. Was spricht dagegen nur Produktionen anzunehmen / durchzuführen, die diese wirklich nicht schwere Anforderung #2von6 erfüllen?

TATORT-Städte im 6-Gewerke-Vergleich

Ich habe so ziemlich alle Städte untersucht, die ich im heutigen Text erwähne. Bremen nicht, da gibt es seit kurzem ein neues Team, da sind es also noch zu wenig Fälle. Sechs Städte, Sechs Gewerke. Bei #2von6 geht es um Frauenbeteiligung, es kommen also auch Gewerke in die Wertung, die von gemischten Teams verantwortet werden. Hier sind hingegen nur die Filme berücksichtigt, in denen eine Position ausschließlich weiblichk besetzt wurde.

In meiner 2019er Analyse aller TATORTE-Orte (TATORTE und Standorte, was läuft FM-mäßig?) fielen u.a. Stuttgart, Wiesbaden und die Hamburger TATORTE durch besonders männlich geprägte Gewerken und Frauenabwesenheit auf. Bei Wiesbaden – dessen Fälle den Ruf haben großes Kino bzw. Kinofilmen nachempfunden zu sein, hat sich nichts geändert, die einzige Frau die überhaupt mal mitarbeiten durfte war Editorin Ulrike Hano in den ersten beiden Wiesbaden-Folgen 2011 und 13.

Stuttgart hatte in seinem ganzen Lauf, also von 2008 bis heute, erst einmal eine Regisseurin: Friederike Jehn (DU ALLEIN, 24.5.20). Der einzige allein von einer Autorin verfasste Stuttgart-TATORT heißt ALTLASTEN, er wurde am 27.12.09 erstausgestrahlt und das Buch stammt von Katrin Bühlig. Das ist fast dreizehn Jahre her. Stuttgart und Ludwigshafen teilen sich übrigens nicht nur das gleiche Gebäude, in dem ihre Kommissariate eingerichtet sind, sondern auch die Spitzenposition bei den Editorinnen.

Hannover / Göttingen hat in dieser Sechsergruppe die höchsten Regisseurinnen- und Bildgestalterinnen-Anteile, knapp unter bzw. deutlich über 40 %. Das ist beachtlich. Allerdings: seit elf Jahren kein einziges rein weiblich verfasstes Drehbuch, und auch keine Tonmeisterin. Die neue zweite Kommissarin Anaïs Schmitz wurde wieder von einem Mann erschaffen, ebenso wie die Kernbesetzung und sämtliche Fälle aus Dresden.

Fällt so etwas niemandem auf? Wünschen sich die Schauspielerinnen nicht mal eine Autorin?

Was fehlt?

Covid 19

Ich habe nicht alle Folgen 2022 gesehen, aber auch in den Inhaltsangaben und Rezensionen zu den übrigen habe ich nichts dazu gefunden. Es heißt die TATORTE spielen in der Jetztzeit. Warum wurde und wird die Corona-Pandemie verschwiegen? Niemand mit Maske, keine Schnelltests, keine PCR-Tests, keine Impfungen, keine Abstände, kein verändertes Leben, niemand ist Covid positiv, niemand kurz oder long krank, niemand in Quarantäne, es gibt keine Querdenker und es gibt keine Corona-Toten. Wie ist es möglich, dass dieses Format, das ja auch immer den Anspruch hat, das Zeitgeschehen einzubeziehen, eine mehrjährige Pandemie ausklammert? Außer in den Pressemitteilungen und Interviews, in denen über erschwerte Drehbedingungen gesprochen wird und wir erfahren müssen, welche Schauspieler keine Maske tragen wollen / müssen.

In dem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich leider immer noch nicht BABARDEALă CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC / Bad Luck Banging or Loony Porn (Buch und Regie Radu Jude) gesehen hab, der den Goldenen Bär bei der Berlinale 2021 gewann, aber das ist ein anderes Thema. Und der Titel heißt wörtlich übersetzt in etwa „Stümperhaftes Plappermaul oder Blasenporno“ (lt. deepl.com)

Motive, Hintergründe, Nachwirkungen

Täter:innen werden gejagt und gefasst. Aber was passiert ist, warum jemand zum Mörder / zur Mörderin wurde, das interessiert weniger. Und überlebende Opfer oder Angehörige von Ermordeten sind den Autor:innen meist kaum Gedanken wert.

Ich habe den Eindruck, dass unter TATORTEN – trotz allem Gerede in den Feuilletons von gesellschaftlicher Relevanz dieses Formats – immer mehr ein Wettbewerb in wahlweise Klamauk oder Brutalität stattfindet. Es gibt Ausnahmen, sicher.

Beispielsweise den Stuttgarter Fall DER MÖRDER IN MIR (Buch und Regie Niki Stein), der keinen schwarz-weiß Mordfall, oder eher ein solches Tötungsdelikt, zeigte, sondern wie der Tod das Leben der Täterfamilie und der Opferangehörigen berührt, nicht nur die Ermittler. Die Tochter, die nicht um den getöteten Vater trauern kann, da sie ihn bereits vor Jahren als ihr Bruder starb verloren hat.

Eindimensional andererseits die Ehefrau von dem Täter (Lady Macbeth-like?). Ihre Motivation, die Familie zu schützen und ihren Mann (Autounfall, Fahrerflucht, unterlassene Hilfeleistung) von einer Selbstanzeige abzuhalten, wurde deutlich. Aber bitte etwas mehr Tiefe auch für diese Figur! Selbst sie könnte Zweifel haben und sich trotzdem entscheiden ihren Mann ständig zu bedrängen – und wie sie eine andere Mutter als mögliche Zeugin gegen ihren Mann unschädlich machte war einfach nur platt.

Ich habe dieses Jahr wie immer nur wenige TATORTE gesehen, vielleicht habe ich auch schlicht das Pech, immer die besonders unerfreulichen TATORTE erwischt zu haben. Wer weiß. Die Fälle hab ich teilweise nicht verstanden, also was war denn nun und warum, hab andere gefragt die regelmäßig dieses Format sehen. Sie konnten es mir nicht sagen bzw. erklärten es a la “ach die Vergewaltigungen waren nur zur Ablenkung” oder “ging es nicht irgendwie um Eifersucht”. Oft höre ich, dass die Fälle ein paar Tage später schon völlig vergessen sind. TATORTE als “Kult”, als Unterhaltung, (brutale) Morde zur Entspannung. Schon verrückt.

Mal ist ein bisschen von Frauenhass die Rede, von einer zerbrochenen Ehe, von Neid, Eifersucht oder unerwiderter Liebe. Mal von nichts. Zum Glück werden nicht alle eifersüchtigen Menschen, nicht alle, deren Beziehung scheitern oder die abgewiesen werden, nicht befördert werden, nicht alle die Frauen hassen, zu Mörder:innen.

Wer fehlt?

Wo ist eigentlich David, der Sohn von Charlotte Lindholm, geblieben?  (Zugegeben, ich sehe echt selten TATORTE, aber bei dem Göttingenfall fiel mir der auf einmal ein)

Wer trauert?

Wer trauert um die Toten, die verlorenen  Partner:innen, Kinder, Eltern, Freunde, Kolleg:innen? Wer trauert mit den vergewaltigten Frauen um ihre verlorene Freiheit und Unbekümmertheit? Wer trauert um die fast Ermordeten, die in den Selbstmord Getriebenen?

Ich erinnere noch mal an DAS NEST, den Dresdner Fall, in dem ich weiß nicht wie viele Menschen ausgeblutet und als Puppen in einem Zimmer arrangiert wurden. Ich erinnere keine Erklärung dafür, das wurde am Ende irgendwie fallen gelassen, weil es dann nur noch um die gefangene und fast ebenfalls ausgeblutete Kommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) ging. Und dass Angehörige der zehn oder mehr Toten vorkamen erinnere ich auch nicht.

Und ja, es gibt auch andere Fälle.

Wer leidet? 

Hiermit meine ich zum einen physisch und / oder psychisch gequälte Kommissar:innen – wie beispielsweise Lena Odenthal in DAS VERHÖR (s.u.) und Karin Gorniak Karin Hanczewski) im mehrfach erwähnten DAS NEST.

Und es geht auch um alte Traumata, die wieder aufbrechen. Das betraf wie ich verschiedenen Rezensionen entnehme schon wieder die arme Karin Gorniak im Dresdner Fall DAS KALTE HAUS und Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) in der Bremer LIEBESWUT. “Das Verbrechen an einer Frau als Spiegel der Gewalterfahrungen, die die Ermittlerin in der Kindheit gemacht hat?” schreibt Christian Buß am 3.6.22 im Spiegel.

Und Kommissare mit Trauma? Ja, wie (sicher nicht erst) in DER MÖRDER IN MIR zu erfahren war: Thorsten Lannert (Richy Müller, Stuttgart). Er war früher verdeckter Ermittler und hat wie es auf Wikipedia heißt “im Zuge seiner Enttarnung seine Frau Susanne und seine Tochter Lilli verloren”. Kommissarkollege Bootz (Felix Klare) ging damit in dem genannten Fall sehr sensibel um (war glaube ich Jahrestag oder so was). Im Gegensatz zum Verhalten von Chef Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) gegenüber Karin Gorniak und ihrer Geschichte.

Das ist der Anfang einer Aufstellung – Ihr könnt gerne helfen mit ,sachdienlichen Hinweisen’, herzlichen Dank!

Wer stirbt?

Zwei Schauspielerinnen hören auf, die Kommissarinnen können vor ihrem brutalen Serientod noch schnell jemanden retten und sterben dann in den Armen ihres Lieblingskollegen:

LIEBE MICH! 20.2.22, Dortmund (Quelle Wikipedia)

Die Suche nach Rosa Herzog führt Faber und Bönisch zu einem früheren Gebäude des Bestattungsunternehmens, das wegen Asbestverseuchung aufgegeben werden musste und nun leer steht. Als die Kommissare das Gebäude durchsuchen, finden sie den Sarg mit ihrer Kollegin (Herzog). Bönisch schießt Nils Schmelzer nieder, als dieser Faber mit einer Metallstange angreift. Während Faber sich um die bewusstlose Herzog kümmert, gelingt es Julia Ihle, an eine Polizeipistole zu gelangen. Sie schießt Bönisch in den Bauch. Bönisch stirbt in Fabers Armen.

DAS MÄDCHEN, DAS ALLEIN NACH HAUS’ GING. 22.5.22, Berlin (Quelle Wikipedia).

Nach einer wilden Verfolgungsjagd, bei der Karow von den beiden Frauen getrennt wird und die Frauen nicht nur vor der Russenmafia, sondern auch vor einem korrupten Polizisten fliehen müssen, gelingt es Julie Bolschakow schließlich, das für sie startbereite Flugzeug zu erreichen. Nina Rubin wird jedoch von den Kugeln Yasha Bolschakows getroffen, denn sie hatte ihre schusssichere Weste Julie Bolschakow gegeben, um diese zu schützen. Robert Karow erschießt daraufhin Yasha Bolschakow, doch für seine Kollegin kann er nichts mehr tun. Nina Rubin stirbt in Karows Armen.

Nur mal so als Gedanke: es könnte doch auch jemand an Covid erkrankt in den Armen eines Kollegen oder einer Kollegin sterben?

Ein Kommissar, der seinen Impfpass gefälscht hat (analog zum Männerfußballtrainer-Fall bei Werder Bremen), und in Wirklichkeit Impfgegner ist, erkrankt an Covid, er verkauft das erst als Grippe, dann kommt raus es ist Covid, er muss beatmet werden, fällt ins Koma – während die Kolleg:innen ohne ihn einen Fall lösen. Bietet sich doch für dramatische Zwischenschnitte und Sprünge zwischen Intensivstation und draußen wo der Fall gerade spielt an. Am Ende kommt die Lieblingskollegin / der Kumpelkollege ins Krankenhaus, verschafft sich widerrechtlich Einlass in die Intensivstation, erzählt in Maske und mit Gummihandschuhen dem immer noch bewusstlosen Kommissar, dass sie für ihn den Fall gelöst haben (z.B. “wir haben den Glücksspiel-Wettbetrug-Schutzgeld-nochwas-Ring ausgehoben, die können jetzt alles dicht machen“), der Kranke erlangt ganz kurz das Bewusstsein, lächelt schwach und stirbt in ihren / seinen Armen.

Was für ein Ende! Und schlimmer als über 90 Minuten mit einem Drahtseil gewürgt und erwürgt zu werden ist dieser Serientod auch nicht (siehe auch Starke Frau, Auf die Fresse!).

Im Abspann könnte auf die aktuelle Zahl von Corona-Toten in Deutschland hingewiesen werden. Und dass von schweren Verläufen ohne erkennbaren Grund auch jüngere Menschen getroffen werden. Impfen schützt.

TATORT-Geschichten

Ludwigshafen

Eine wie ,eine Hexe verbrannte’ Frau war auch der Auftakt im ersten TATORT nach der Sommerpause (in der TATORT-Wiederholungen ausgestrahlt wurden). 4. September, Ludwigshafen, DAS VERHÖR. Es war der 1207. Fall, und die fünf TATORTE davor drehten sich auch um ermordete Frauen:

Der danach – RISIKEN MIT NEBENWIRKUNGEN – begann mit dem Fund einer Frauenleiche im Zürichsee.

Also sieben am Stück.

Das heißt aber noch nicht viel, denn zu kleine Stichproben sind gefährlich. Tatsächlich gab es in jeweils 14 der TATORTE Januar bis Oktober 2022 eingangs getötete Frauen bzw. getötete Männer. Bleiben drei Filme: einmal stehen sechs Tote, Frauen wie Männer, am Anfang (LEBEN TOD EKSTASE), einmal ging es um eine Entführung (TYRANNENMORD), und einmal wird ein alter Fall aufgerollt (VIER JAHRE).

Zurück zu DAS VERHÖR (Buch Stefan Dähnert, Regie Esther Wenger, Kamera Cornelia Janssen): Wie lange sind die beiden Kommissarinnen schon in der Polizeiarbeit tätig? Warum werden sie durch das Drehbuch so demontiert, das man sie in ihrem Job kaum noch Ernst nehmen kann? Und wird so was auch in Plots mit Kommissaren geschrieben? Das wäre eine Untersuchung wert.

Kommissarin Odenthal (Ulrike Folkerts) brachte ohne Not den Hauptverdächtigen (Bundeswehr-Hauptmann Kessler, gespielt von Götz Otto) regelmäßig auf den neuesten Ermittlungsstand, sie und Kommissarin Stern (Lisa Bitter) brachen Regeln ohne Ende – von unterlassener Hilfeleistung im Verhör des Asthmatikers Kessler bis zur Verprügelung eines Leichnams war alles dabei.Odenthal 1989 übernahm sie die Leitung der Mordkommission – ließ sich immer wieder von den Machtspielchen des Verhörten schockieren und provozieren (sorry, aber eine erfahrene Kommissarin die ausrastet, wenn sie Fotze genannt wird?). Sie war bereit vor ihm niederzuknien, lieb zu betteln und sich sogar auszuziehen als er sagte er wolle ihre Brüste sehen im Tausch gegen eine Auskunft, – obwohl rein gar nichts darauf hindeutete, dass er ihr dann das Versteck seiner zwischenzeitlich entführten Vorgesetzten verraten würde.

Wessen groteske Fantasie über die Erniedrigung einer starken Frau müssen wir da mitansehen? Und gibt es in TATORTEN vergleichbare Szenen mit Kommissaren?

Achja, gerade als Odenthal ihre Bluse aufknöpft bringen Stern und Kollegen den bei einer Autoverfolgungsjagd tödlich verunglückten anderen Verdächtigen (Patrick Werfel, gespielt von Jonathan Müller) ins Präsidium und faken seine Verprügelung. Was an sich schon illegal wäre, aber eine Leiche zu misshandeln vermutlich umso mehr. Ich schätze das wird ebenso wenig polizeiinterne Konsequenzen haben wie seinerzeit der von Kommissar von Meuffels (Matthias Brandt) mitverschuldete Tod seiner Kollegin Nadja Micoud (Maryam Zaree) im Polizeiruf TATORTE vom 16.12.18.

Das wurde alles von einer Redaktion gutgeheißen? Ebenso wie dass der Krimiplot eigentlich nur durch eine Kette von Zufällen zusammengehalten wurde? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, hier ein paar Beispiele: Die beiden am Mordkomplott Beteiligten Kessler und Werfel sitzen im Polizeipräsidium wartend auf einer Bank, der eine steckte dem anderen heimlich eine wichtige Nachricht mittels einer Zeitung zu – was wenn der zweite nicht zum ersten gesetzt worden wäre, unbeaufsichtigt, aber zum Glück mit Überwachungskamera, damit das später auch entdeckt werden konnte? Dann wurde dem Hauptverdächtigen Kessler von der inkompetenten Sekretärin Keller eine Anwaltsliste auf einem Tablet mit offenem Internetanschluss gereicht (sie schien neu bei der Polizei zu sein?), was er nutzt um ,nach außen zu kommunizieren’. Konnte er wissen, dass er diese Möglichkeit bekäme? Nein. Und Odenthal verlor die Fassung, dass er seine Suchhistorie im Browser gelöscht hatte. Ernsthaft? Sie ging ein paar Szenen vorher zur Kaserne, um Kessler (der da noch den Status Zeuge hatte) zu bitten, am nächsten Tag auf die Wache zu kommen. Da schickt sie keinen Rangniederen? Nein, denn sie musste ja mitbekommen, dass Kessler eine Vorgesetzte hat, (Oberstleutnant Limbach, gespielt von Katrin Röver), die ihn und ein paar andere Mackersoldaten gerade wegen irgendwelcher Aufnahmerituale oder ähnlichem zuammenfaltete. Dann gab es noch die Übergabe eines Handys über den kleinen Sohn der Ermordeten (Ex-Frau vom Verdächtigen Werfel) mit Instruktionen zur Durchführung des nächsten Mordes an der Chefin vom Verdächtigen Kessler: warum hat die Mutter der Ermordeten / die Großmutter (Christine Wilhelmi) dem 5-Jährigen das Handy nicht weggenommen sondern es sogar ihrem verhassten Schwiegersohn Werfel gegeben? Eigentlich sollte sie doch nicht so unbedarft sein, es wurde hervorgehoben, dass sie Anwältin ist.

Ist das Absicht, einfach egal, oder wurde es schlicht übersehen?

Über die ermordete Ann-Kathrin Werfel (Lisa Förster) erfahren wir nicht viel mehr, als dass sie Investmentbankerin war (wie der neue britische Premierminister), das reichte, um sie als unsympathisch und ermordungsverdächtig einzuführen. Selbst der kleine Sohn blieb unbeeindruckt von ihrem Verschwinden – ob ihm überhaupt jemand erzählt hatte, das sie tot war?

Mitgefühl wird nur für die arme Kommissarin geweckt, die als einzige unter dem Mord zu leiden scheint.

Und ich glaube, auch das Mitgefühl mit der entführten Limbach, und die Erleichterung darüber, dass sie gerettet war bzw. sich selbst befreien konnte, hielt sich beim Publikum in Grenzen, wenn die Kommentare auf Twitter & Co dafür ein Anhaltspunkt sind. Da wurde hauptsächlich belächelt, dass sie irgendeinen megaschweren Betonpfeiler aus den Angeln gehoben hatte. Oder so ähnlich.

Es gab 2022 noch einen weiteren, differenzierteren Ludwigshafen-Fall: MARLON (Buch Karlotta Ehrenberg), in dem es um den Mord an einem verhaltsauffälligen Jungen im Schulumfeld geht. Und da zeigt sich ein mögliches Problem: die wiederkehrenden Hauptfiguren ermitteln unterschiedlich, je nach Autor:in. Im VERHÖR agieren die Kommissarinnen im Alleingang, in MARLON meist zu zweit, sie diskutierten den Fall und mögliches Vorgehen (was Sinn macht), ja sie teilten sich sogar den Dialog sätzeweise fast schon auf wie Tick, Trick und Tack. Einen Fall später im VERHÖR ist davon nicht mehr viel übrig. Zwei Einzelkämpferinnen, die übrigen Kollegen Statisterie. Teamwork nein Danke.

Göttingen

Ein weiterer ärgerlicher Tatort mit zwei Kriminalhauptkommissarinnen war DIE RACHE AN DER WELT (Buch Daniel Nocke, Regie Stefan Krohmer, Kamera Patrick Orth) aus Göttingen, mit Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba).

Er beginnt mit der Anbahnung einer Vergewaltigung – die dann aber nicht gezeigt wird – durch einen „Der Wikinger“ genannten Mehrfachtäter (gespielt von Mirco Kreibich). Aber er bzw. sein mögliches Motiv und leider wieder einmal die Opfer interessierten nicht wirklich, höchstens als falsche Fährte für den Hauptfall, dem Mord an der Studentin Mira, die in der Flüchtlingshilfe engagiert war. Wer Mira spielte weiß ich nicht – bei crew united ist nur Katrin Gärtner als Stuntfrau für sie genannt. Aber wenn ich das richtig erinnere taucht die Figur auch nur als gefundene Leiche auf, und auf einem Foto am Ende. Und warum Mira sterben musste hab ich auch nicht verstanden. Ein weiteres Mal, dass schlüssige Motive in TATORTEN nicht wirklich zu interessieren scheinen.

Über DIE RACHE AN DER WELT (wessen Rache?) steht auf der ARD-Webseite im Sprech des letzten Jahrhunderts: „Die heile Welt von Göttingen wird erschüttert durch einen Serientriebtäter, der an abgelegenen Ecken Frauen auflauert und zu sexuellen Handlungen zwingt.“ Eigentlich sollte mittlerweile auch der letzte Drehbuchautor wissen, dass es bei Vergewaltigung nicht um Triebbefriedigung geht, und dass die vergewaltigte Frau nicht die Handelnde ist. Und in diesem speziellen Fall hat der Vergewaltiger den Frauen auch nicht unbedingt aufgelauert, aber seine Verbrechen bevor der Krimi beginnt wurden nicht gezeigt, nicht einmal aufgezählt oder in der Summe genannt. Keine Ahnung wie die abgelaufen waren. Gezeigt wurden zwei seiner Opfer, eine an Passivität kaum zu überbietende, und eine die erst ähnlich schwach eingeführt wird, sich später ein bisschen wehrt und dann von einem herbeieilenden Mann gerettet wird, der sich auf den Angreifer stürzt. Sie und er werden hinterher gemeinsam von der Polizei vernommen, etwas ungewöhnlich. Ich dachte erst, die kennen sich schon, aber das war vielleicht um Szenen zu sparen?

Natürlich ist es völlig in Ordnung, wenn eine Frau sich nicht wehrt, so viel Angst vor einem Angreifer hat, dass sie erstarrt, nicht weglaufen kann. Nur ist das nicht die einzig mögliche Reaktion. Aber die Art, wie der Autor eine überfallene Frau erzählt, als leichte Beute für einen Vergewaltiger, der überhaupt keine Verbergungsvorkehrungen trifft, er verfolgt Frauen am hellichten Tag in der belebten Stadt. Wo doch eigentlich schon Phantombilder von ihm im Umlauf gewesen sein müssen? Aber ich frage mich vor allem, warum konnte nicht zum Beispiel die etwas weniger passive zweite Frau sich selber retten? Sie hätte ja Karate trainieren und den Angreifer durch gezielte Tritte oder Pfefferspray in die Flucht treiben, schnelle Läuferin sein und laut „Hilfe! Raubüberfall!“ schreiend wegrennen können. Aber nein, ihr mussten Männer zu Hilfe kommen, nachdem sie den ihr unangenehmen Mann sehr lange neben sich hergehen lässt, und ihre halbherzigen verbalen und leichten körperlichen Abwehrversuche nicht Erfolg hatten.

Da überrascht eine in der taz vom 26.10. zitierte Aussage von Maria Furtwängler von einer Veranstaltung zum Thema Gewalt gegen Frauen im Fernsehen (Geschlechtsspezifische Gewalt im TV: In jeder dritten Geschichte. Von Alexandra Hilpert): „Das Narrativ, das (sic!) Frauen sich besser nicht wehren sollten, wenn sie von Männern angegriffen werden, entspricht einfach nicht der Wirklichkeit.“ Eine langjährige TATORT-Hauptdarstellerin wie Maria Furtwängler könnte sicher eher Einfluss auf das Drehbuch und vermeintlich „kleine Szenen“ nehmen als die Darstellerinnen der angegriffenen Frauen (die ich leider nicht nennen kann).

Auch in diesem verstieß eine Kommissarin wissentlich gegen Vorschriften, oder sogar das Gesetz, es wird für sie vermutlich auch keine Konsequenzen haben, nur ein Untergebener wurde vorübergehend vom Dienst suspendiert.

Kiel und Wiesbaden 

Ich habe Stuttgart erwähnt und die ermordete Familie von Kommissar Lannert. Zwei andere Kommissare waren auch emotional mitgenommen durch ihre Fälle, Klaus Borowski (Axel Milberg) in BOROWSKI UND DER SCHATTEN DES MONDES, und Felix Murot (Ulrich Tukur) in MUROT UND DAS GESETZ DES KARMA. Sie ermittelten beide persönlich befangen in ihren jeweiligen Fällen. Bei beiden geht es um ehemalige Freundinnen, bei beiden spricht die – untergeordnete – Kollegin diesen Konflikt an, aber Schwamm drüber. Und nebenbei sind Borowski und Murot wohl einzigen Dauerkommissare, die (fast) immer im TATORT-Titel genannt sind. (Warum heißt der andere Fall eigentlich nicht „Odenthal und das Verhör“ oder „Odenthal und der Hass des Soldaten“?). Und im letzten und nächsten Münster-TATORT gab bzw. gibt es glaube ich auch persönliche Berührungspunkte zwischen den Ermittlern und dem Fall. Scheint eine neue TATORT-Realität zu werden.

TATORT-Programmbeschwerde von Pro Quote Film

Gegen den genannten Kieler Tatort hatte im Frühjahr Pro Quote Film vor Monaten eine Programmbeschwerde eingereicht, in der sie neben vielen anderen Punkten kritisieren, dass „die Täterperspektive einen überdimensionalen Raum erhält“. Den ganzen Text findet Ihr auf der Pro Quote Film-Webseite.

Sie stellen in der Beschwerde eine Reihe von Forderungen an den Sender:

  • Wir wünschen uns, dass gerade die so beachtete Reihe Tatort ein Beispiel setzt und die Kriminalfälle nicht überproportional Frauen und Kinder als Opfer zeigen.
  • Darüberhinaus wünschen wir uns, dass Autor:Innen und Macher:Innen, die sich der Darstellung sexualisierter Gewalt annehmen von Fachstellen beraten werden.
  • Bei der Darstellung von geschlechtsspezifischer Gewalt im deutschen TV sollte ausserdem eine Vorabwarnung über den Inhalt gesendet werden.
  • Hinweise auf Beratungs- und Unterstützungsangebote, wie bei einigen unserer europäischen Nachbarn längst üblich, sollten für Betroffene vor und nach den Filmen eingeblendet werden.
  • Das Problem mit (sic!) Gewalt und sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kinder sollte eine der Schwere des Problems entsprechende Aufarbeitung bei ihrer Programmgestaltung erhalten. (…)
  • Eine systematische Einbeziehung der Betroffenen-Perspektive sollte stattfinden.

Pro Quote Film hat vom Sender eine Antwort erhalten und ihrerseits reagiert, aus dem Briefwechsel kann ich logischerweise nicht zitieren. 

Eine inhaltliche Anmerkung noch: dass überproportional Frauen und Kinder als Opfer gezeigt werden ist nicht ganz zutreffen, ich hatte in Noch mehr Morde: TATORT 2021 die Kriminalstatistik zitiert. Es wurden 2020 in Deutschland sogar mehr Frauen als Männer ermordet, allerdings in deutlich anderer Altersverteilung. Das sah vor zehn Jahren noch anders aus (siehe TATORTE 2013, ein Rückblick).

Eine Programmbeschwerde einreichen geht übrigens recht einfach, über diese Seite.

Epilog

Heute ist Sonntag der 13. November, kurz nach halb zwei nachmittags. Das waren einige Gedanken zu den TATORTEN 2022. (und die englische Fassung folgt demnächst)

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