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Gedanken einer Schauspielerin

Der Inclusion Rider – Die Diversitätsklausel

“I have two words to leave with you tonight, ladies and gentlemen: Inclusion Rider.”
Frances McDormand, US-amerikanische Schauspielerin

Reden über den Inclusion Rider

Auch hier in Deutschland taucht der Begriff Inclusion Rider seit einigen Monaten in Medien und sozialen Netzwerken auf, wobei ich den Eindruck habe, dass nicht ganz klar ist, worum es genau geht und dass eine Anwendung in der deutschen Filmbranche vielleicht nicht ohne weiteres machbar ist. Deshalb heute ein etwas ausführlicherer Artikel zum Thema. Alle Übersetzungen von Zitaten stammen von mir, ebenso etwaige Hervorhebungen darin.

Die Dankesrede einer Best Actress

Schlagartig einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde der Inclusion Rider – zumindest als Begriff – durch die Academy Awards, die Verleihung der US-amerikanischen Filmpreise im März 2018. Die Auszeichnung als beste Schauspielerin 2018 ging an Frances McDormand für ihre Hauptrolle in THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI, die zum Schluss ihrer Dankesrede alle nominierten Filmfrauen im Saal bat aufzustehen und sagte:

Wir alle wollen Geschichten erzählen und haben Projekte die finanziert werden müssen. Sprecht uns an, aber nicht auf den Parties heute Abend, sondern ladet uns in den nächsten Tagen in Euer Büro ein oder kommt zu uns, wie es am besten passt, und dann reden wir. Und ich möchte Euch noch zwei Wörter mit auf den Weg geben: Inclusion Rider.

Was ist und kann ein Inclusion Rider? McDormand sagte im Anschluss an die Preisverleihung, dass er Schauspieler*innen ermöglicht „in ihren Filmverträgen Quotierungen zu verlangen für Menschen die Diversität repräsentieren – Frauen, nicht-weiße Menschen (people of colour), Menschen mit Behinderungen und LGBTQ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Queer) – für Teampositionen hinter der und Rollen vor der Kamera.“ (tvguide 5.3.) und dass „alle, die Vertragsverhandlungen führen, 50 % Diversität in Cast und Crew (…) fordern können.“ (Hollywoodreporter 4.3.)
Diversität ist auch so ein Begriff, der recht unterschiedlich verwendet wird – ist Diversität die gesellschaftliche Realität, d.h. eine Mischung, dann müssten 100 % das Ziel sein, oder stellen die unterrepräsentierten Minderheiten Diversität dar, was heißen würde, dass weiße, heterosexuelle Frauen ohne Behinderung nicht dazu gehören, es sei denn, sie sind alt? Ein Thema für einen anderen Tag.
Der Inclusion Rider – ich schlage als deutschen Begriff Diversitätsklausel vor – wurde in der Oscarnacht und danach auch recht unterschiedlich definiert, was Raum für Fragen öffnete: Können diesen Passus alle Schauspieler*innen in ihre Verträge setzen? Ist es eine Absichtserklärung oder Pflicht? Geht es um die gesamten Crews? Wie soll die Klausel umgesetzt werden und wer überprüft sie? – und andere mehr.

Wer hat‘s erfunden? Dr. Stacy Smith

Der Inclusion Rider, auch Inclusivity Rider oder Equity Rider genannt, wurde von Dr. Stacy Smith entwickelt, und von ihr wie vielerorts zitiert 2016 in einem TED-Talk öffentlich präsentiert (The data behind Hollywood‘s sexism). Smith, die außerordentliche Professorin für Kommunikation an der USC Annenberg School for Communication and Journalism (an der Universität von Südkalifornien) ist, hatte allerdings schon zwei Jahre zuvor, im Dezember 2014, in einer Gastkolumne im Hollywoodreporter darüber geschrieben (Hey, Hollywood: It’s Time to Adopt the NFL’s Rooney Rule — for Women). Dort hieß es unter der Überschrift Put Equity in the Contract:

Was wäre, wenn die Top-Schauspieler in ihren Verträgen eine Gerechtigkeitsklausel (equity rider) ergänzten? Diese Klausel würde festlegen, dass die Geschlechterverteilung der drittrangigen Sprechrollen derjenigen des Filmsettings zu entsprechen hat, solange das sinnvoll für die Handlung ist. (…). Stellen Sie sich vor wie es wäre, wenn ein paar Schauspieler diese Befugnis im Sinne von Frauen und Mädchen wahrnehmen würden. Es würde nicht unbedingt zu mehr weiblichen Hauptrollen führen, aber es würde diverse Bevölkerungen im Film erschaffen, die eine Bevölkerung widerspiegeln, die zur Hälfte aus Frauen und Mädchen besteht.

und auf der Webseite des Annenberg Instituts (The Inclusion Rider: Legal language for ending Hollywood’s epidemic of invisibility):

Der Inclusion Rider ist ein Zusatz zum Vertrag eines Schauspielers / Urhebers, der vorschreibt, dass Geschichten und Geschichtenerzähler so aussehen sollen wie die Welt, in der wir tatsächlich leben – und nicht nur der Bruchteil des Talentpools. Es tut dies, ohne die Souveränität der Geschichte zu gefährden.

Mit diversen Bevölkerungen im Film sind Frauen, People of Colour, Menschen mit Behinderungen und Mitglieder der LGBT– und anderer marginalisierter Bevölkerungsgruppen gemeint, die „traditionell unterrepräsentiert sind und entsprechend ihrer Bevölkerungsanteile auf der Leinwand zu sehen“ sein sollen (Why an ‘Inclusion Rider’ is the answer we need now, 5.3.18).
Nicht erwähnt werden übrigens beispielsweise Frauen ab 40, die vermutlich auch in Hollywood seltener zu sehen sind als ihre Altersgenossen.

Auf der Annenberg-Institutsseite wird ein fünfseitiger 9-Punkte-Mustervertrag bereit gestellt, für den neben Stacy Smith und Leah Fischman (beide USC Annenberg Inclusion Initiative) Kalpana Kotagal (Cohen Milstein Sellers & Toll, eine Kanzlei) und Fanshen Cox DiGiovanni (Pearl Street Films) verantwortlich zeichnen.
Es wird wieder von „tertiary characters“ und „minor roles“ gesprochen und  dass es um Rollen ohne Einfluss auf die Handlung geht. Zur Klärung wird u.a. auf die „minor role“-Definition von SAG-AFTRA (Screen Actors Guild‐American Federation of Television and Radio Artists) hingewiesen, die ich aber noch nicht gefunden habe. Ich verwende in der Folge den Begriff Tagesrollen zur Unterscheidung von Nebenrollen, die dann die „zweitrangigen“ Rollen wären.
Diese Beschränkung auf kleine, unwichtigere Rollen finde ich bedauerlich und unnötig, aber dazu später mehr in einem Rechenbeispiel (Am Beispiel des G20 HH 17) und im Kapitel Diversität vor der Kamera.

Zurück zum Mustervertrag, der festschreibt (3), dass

  • Regisseur*in und Casting Director mindestens eine Frau und mindestens ein*e Vertreter*in von Minderheiten für alle supporting roles im Casting sehen sollen, und
  • diejenigen die für die Einstellungen des Teams verantwortlich sind mindestens eine Frau und mindestens ein*e Vertreter*in einer unterrepräsentierten Gruppe zu den Vorstellungsgesprächen für zehn Teampositionen einladen sollen. Diese sind Kamera, Szenenbild, Ton, 1. Regieassistenz, 2. Regieassistenz, Kostümbild, Herstellungsleitung, sowie Schnitt, Spezialeffekte und Komposition.

Es wird darüber hinaus festgehalten (4), dass Produzent*in bzw. Studio nach Möglichkeit die zuvor genannten Teampositionen mit entsprechend qualifizierten Personen besetzen sollen, die „auf jener Position unterrepräsentiert waren“. Sprachlich vielleicht etwas missverständlich (denn Individuen können schlecht unterrepräsentiert sein), aber vielleicht ist es so zu verstehen, dass diejenigen, die mit eingeladen werden sollen, bei vergleichbarer Qualifikation bevorzugt eingestellt werden sollen? Das bleibt unkonkret.

Etwas überrascht hat mich, dass Stacy Smith an den im Mustervertrag vorgegebenen Abläufen zu beteiligen ist, sie wird in 5 der 9 Unterpunkten namentlich genannt: als Beraterin für Regisseur*in und Casting Director (4 a ii), als Mitverantwortliche für die Ermittlung von Referenzwerten (4 a iii), als Mitentscheiderin, ob die Klausel nur für Teampositionen und nicht Tagesrollen angewendet werden soll (5), als Empfängerin eines Berichts über die Umsetzung der Klausel (6), als Nutzerin der anonymisierten Daten für die Forschung (7), und als diejenige die überprüft, ob die Vereinbarung bzgl. der Rollen eingehalten wurde (8 a) – falls nicht, wird eine Strafgebühr fällig.
Es werden auch vereinzelt die anderen 3 Mustervertragurrheberinnen genannt und in Fußnoten teilweise darauf hingewiesen, dass auch andere Personen bzw. Institutionen einige der genannten Aufgaben übernehmen können.
Trotzdem, eine seltsame Verquickung.

An dieser Stelle ein kurzer Hinweis auf zwei eher kritischere Artikel:
Strafverteidigerin / Bürgerrechtsanwältin Rebecca Chapman (Boston) ging am 3.4. in der New York Times (Sorry, Hollywood. Inclusion Riders Won’t Save You.) auf die Frage der Durchsetzung der Klausel einund die Rolle der Promi-Schauspieler*innen, die die Klausel in ihre Verträge setzen lassen.
Und Deb Verhoeven und Bronwyn Coate warnten am 22.5. im Guardian, dass es nicht reicht, mehr Filme von Regisseurinnen zu haben, wenn die Gatekeeper außer acht gelassen werden (unabhägig von der Diversitätsklausel): Cannes of worms: true gender equality in film will take more than ‚just add women‘

Eine gute Idee

Es ist eine sehr gute Idee, gleichberechtigte Teilhabe und Diversität in den Fokus zu rücken, und in Verträgen und Richtlinien festzuschreiben. Auch der Vorschlag, dass die prominentesten Schauspieler*innen ihre Stellung für entsprechende Forderungen nutzen sollen ist bedenkenswert. Wobei es in Deutschland bzw. Europa glaube ich etwas anders läuft, weder gibt es diese ganz großen Stars, noch haben wir ein Studiosystem. Aber in vielen Ländern gibt es etwas anderes, was vielleicht sogar besser und demokratischer ist und mindestens genauso gute Hebelansätze bietet: staatliche oder europäische Filmförderung, öffentlich-rechtliches Fernsehen, Rundfunkräte, Förderrichtlinien, Senderaufträge, Grundrechte, Antidiskriminierungsgesetze und anderes mehr.

Im nächsten Kapitel gibt es ein Fallbeispiel mit ein bisschen Statistik und vielen bunten Bildern. Danach komme ich noch einmal kurz auf Dr. Smiths Vorschläge zu den Teampositionen zurück, und auf die Frage der Diversität vor der Kamera.

Am Beispiel des G20 HH 17

Im folgenden möchte ich den Diversitätsklausel-Grundgedanken zur Rollenbesetzung durchspielen, und  mit der Methode NEROPA Neutrale Rollen Parität vergleichen (offizielle Webseite). Ich nehme dazu die Zusammensetzung des G20 Gipfeltreffen in Hamburg vom Juli 17, wobei ich die  38 politischen Hauptakteur*innen  in drei Gruppen teile: die erst-, zweit- und drittrangigen Figuren, entsprechend den Haupt-, Neben- und Tagesrollen. Dies ist nur ein Modell und spiegelt nicht die tatsächliche Bedeutung, Screentime oder Textmenge der 38 Leute beim Treffen wider. (Zur Einordnung der Leinwandpräsenz hier das Drehbuchbeispiel KLEINE HAIE: Tagesrollen kamen vor in ein bis zwei Szenen, Nebenrollen in 3 bis 15 und die Hauptrollen in mindestens 45 der insgesamt 85 Szenen.)

  • Die 7 Hauptrollen (primary characters) sind die Vertreter*innen der G7-Staaten, alphabetisch: Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten, 5 Männer (Emmanuel Macron, Paolo Gentiloni, Shinzo Abe, Justin Trudeau, Donald Trump) und 2 Frauen (Angela Merkel und Theresa May).
  • Die 14 Nebenrollen (secondary characters) sind die übrigen Vertreter*innen der G20-Staaten: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Russland, Saudi Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und EU (2 x), insgesamt 14 Männer und 0 Frauen.
  • Die 17 Tagesrollen (tertiary characters) sind die Vertreter*innen der Gaststaaten und -organisationen: Niederlande, Norwegen, Schweiz, Singapur, Spanien, Vietnam, Afrikanische Union, Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung, Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft, Vereinte Nationen, OSZE, IWF, Weltbank, Financial Stability Board, Internat. Arbeitsorganisation, Weltgesundheitsorganisation – insgesamt 2 Frauen (Erna Solberg, norw. Premierministerin und Christine Lagarde, Direktorin IWF) und 15 Männer.

Nach Stacy Smiths Ansatz würden die Tagesrollen soweit möglich und im Rahmen der Geschichte paritätisch (und divers) besetzt, es werden 7 Frauen und 10 Männer, die anderen Rollenkategorien bleiben unverändert.. Der Gesamtfrauenanteil  steigt von 10,5 % (G20 HH) auf 26,3 % (G20 HH-Incl.Rider). Hier die drei Rollengruppen:

Die Methode NEROPA Neutrale Rollen Parität sucht nach neutralen Figuren unter allen Rollen, nicht nur den unwichtigsten. Ich habe überprüft, ob ein Land schon mal eine Regierungschefin hatte und dann diese Staaten bzw. ihre Vertreter*innen als neutral definiert, denn die Figur muss nicht männlich sein (bei einem richtigen Film würde natürlich das Drehbuch und Hintergrund und Funktion der Rolle untersucht, von einem Dreierteam. Das hier ist nur ein Modell).
Also: für die Tagesrollen kommt NEROPA genauso zu 7 Frauen und 10 Männern. Bei den Hauptrollen gibt es 2 neutrale, Frankreich und USA, denn in diesen beiden Staaten hatten zuletzt (Stich-)Wahlen zwischen einem Mann und einer Frau stattgefunden. Das führt in der Konsequenz durch die abwechselnde Besetzung zu einer zusätzlichen weiblichen Hauptrolle, es sind nun 3 gegenüber 4. In der zweiten Gruppe / Nebenrollen (secondary characters) gibt es 8 neutrale Rollen, also 4 zusätzliche Frauen. So sähe die Rollenverteilung zum fiktiven Drehbeginn aus:

Entsprechend steigt der Frauenanteil im 38 Rollen-G20-Cast durch NEROPA noch mehr. Es ist zwar immer noch kein ausgeglichenes Bild, aber fiktionale 40 : 60 statt der realen 10 : 90 für eine Verfilmung, die in ihren inhaltlichen Grundfesten nicht verändert wurde, ist doch schon mal ganz vielversprechend:

Noch deutlicher wird es, wenn wir die drei Versionen räumlicher betrachten (zum Vergrößern der Bilder einfach die Galerie anklicken). Bild 1 die Ausgangslage, Bild 2 mit Diversitätsklausel: hier stehen die fast paritätischen Tagesrollen am Horizont, ohne großen Einfluss auf die Handlung und mit nur geringer Möglichkeit, Eindruck zu hinterlassen und eine Identifikationsfläche zu bieten. Im Bild 3, NEROPA, stehen Frauen überall und nie alleine, was eine Chance zur Bekämpfung von Stereotypisierung (wie in Filmen wie OCEAN‘S ELEVEN) darstellt.
In diesem Beispiel ging es nur um das Geschlecht der Rollen. Was im Film unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen betrifft würde mit der Diversitätsklausel ihr Anteil unter den drittrangigen Rollen erhöht. Mit der NEROPA Methode – Teil 2: Feinschliff – haben die Caster*innen die Möglichkeit, die Gesamtbesetzung weiter zu diversifizieren in Bezug auf Alter, Größe, Ethnizität, Körperlichkeit, Hautfarbe, Sexualität, (Nicht-)Behinderung, Akzent / Dialekt und mehr.

Als Zugabe Bild 4: die hin und wieder vorkommende Umwandlung einer einzelnen männlichen Hauptrolle / wichtigen Nebenrolle zu einer weiblichen. Mal ist sie dann die einzige (à la ROGUE ONE), mal eine von sehr wenigen Frauen (Dean Hardcastle in MONSTERS‘ UNIVERSITY oder Ministerin Delacourt in ELYSIUM), in einem ansonsten männlichen Ensemble.

Diversität hinter der Kamera

Zu den Diversitätsklausel-Vorschlägen für Teampositionen zwei Anmerkungen, wobei ich dazu sagen muss, dass ich mich mit der US-Filmbranche überhaupt nicht auskenne. Werden dort für jede Position Gespräche mit mehreren Bewerber*innen geführt? Kann beispielsweise keine Produktion über die Filmmusik bestimmen, kein/e Regisseur*in den/die Wunsch-DoP mitbringen?

Mindestens eine Frau und mindestens ein/e Minderheitenvertreter*in sollen zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden.

Mich stört ein bisschen diese angedeutete Klammer „Frauen und andere Minderheiten“, mit der Minimalforderung „eine Frau“. Eine befreundete Regisseurin berichtete, dass ihr von einer Produktionsfirma eine Liste mit 10 Kameraleuten vorgelegt wurde, neun davon Männer. Sie bestand auf Nachbesserung, ihr wurden darauf weitere Kamerafrauen vorgeschlagen, und so hatte sie eine wirkliche Auswahl. Hierzu passt eine Forderung von Pro Quote Film:

5. VORSCHLAGSPFLICHT FÜR ALLE GEWERKE: Mehr Frauen auf die Empfehlungslisten!
Die öffentlich-rechtlichen Sender verpflichten die Produktionsfirmen – nach dem Vorbild der Regielisten – auch für andere Gewerke mehr Frauen vorzuschlagen.
Die Produktionsfirmen achten auf ausgeglichene Teamkonstellationen.

Ob die Vorschlagslisten paritätisch sein oder der Frauenanteil zumindest dem Anteil der Berufsanfängerinnen in dem jeweiligen Gewerk entsprechen sollte ist Geschmackssache bzw. verhandelbar. Wichtig ist auf jeden Fall, dass es mehr als eine Frau ist. (siehe auch Kamera: mit ihren Augen)

Es hat sich außerdem schon oft genug gezeigt, dass der Ansatz „auch eine Frau einladen“ nicht zu durchschlagenden Erfolgen führt, z.B. bei der Besetzung von Lehrstühlen, oder im Regiebereich: „ich wollte das Projekt ja gerne einer Regisseurin geben, aber als ich Frau ABC fragte hatte sie keine Zeit“.
Unsere öffentlich-rechtlichen Sender haben sich aufgrund der mehrjährigen politischen Arbeit von Pro Quote Regie und der beschämenden Beschäftigungssituation von Regisseurinnen (siehe BVR Diversitätsberichte bzw. FFA-Studien) zur Erhöhung des Regisseurinnenanteils verpflichtet, auch in den Filmförderungen bewegt sich einiges. Und siehe da, auf einmal arbeiten mehr Regisseurinnen beim TATORT (absolut und individuell), bei anderen höherwertigen Fernsehfilmformaten und in Serien. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob diese Trends sich fortsetzen und auch auf andere Gewerke übergreifen, oder ob weitere Maßnahmen erforderlich werden.

Die Diskussion um Aufsichtsräte und Vorstandsposten in der deutschen Wirtschaft hat gezeigt, dass Quoten bzw. Zielvorgaben effektiver sind als Absichtserklärungen  (siehe DIW Managerinnen-Barometer 2018: Geschlechterquote für Aufsichtsräte greift, in Vorständen herrscht nahezu Stillstand).
Insofern wären
für die deutsche Film- und Fernsehbranche (und sicher auch für die anderer europäischen Länder die mit der Diversitätsklausel verbundenen zurückhaltenden Forderungen wohl zu wenig.
Aber der Inclusion Rider kann ja nachgebessert werden. Warum nicht über die vorgeschlagene Einladungspraxis hinaus festschreiben, dass beispielsweise mindestens eine Frau als Regisseurin, Kamerafrau, Tonmeisterin oder Szenenbildnerin zu beschäftigen ist? Und dann nicht nur eine Frau einladen sondern so viele wie nötig, um die beste, geeigneteste zu finden? Es gibt weit mehr als eine qualifizierte Frau in jedem Gewerk.

Und das andere, wo ich noch Klärungsbedarf sehe für eine Übertragung auf die deutsche Branche: es soll um der Diversitätsklausel zu genügen (Mustervertrag 3 b) für 10 Teampositionen je mindestens ein/e Vertreter*in einer benachteiligten Minderheit zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden. Wie soll das gehen? Eine Tonmeisterin bewirbt sich mit Vita und Arbeitsproben und Hinweis auf den tamilischen Vater? Der 2. Regieassistent vermerkt unter Sonstiges seine Homosexualität, ein*e Editor*in ihre Behinderung? Oder wird einfach jedes Mal nach Foto jemand nicht weiß aussehendes dazu eingeladen, und schon wird der Klausel entsprochen? Oder läuft das über die nachträgliche freiwillige Selbstauskunft für den statistischen Bericht (6 e), wo die Eingeladenen sich auf einem Fragebogen soweit zutreffend als Frauen bzw. Angehörige einer benachteiligten Minderheit zu erkennen geben sollen? Wollen wir wirklich, dass eine Produktion diese Daten sammelt, und was würde dadurch erreicht? Weniger Diskriminierung? Mehr Vielfalt? Ich kann mir das ehrlich gesagt noch nicht so ganz vorstellen, und interessanterweise ist das ein Aspekt, der im Zusammenhang mit der Diversitätsklausel nicht wirklich diskutiert wird soweit ich das mitbekomme. Aber vielleicht ist das in den USA anders.
Trotzdem, warum eine Behinderung bekannt machen, wenn sie die eigene Arbeitsleistung nicht beeinträchtigt? Warum die eigenen sexuellen Identität outen, wenn man – berechtigt oder unberechtigt – befürchtet, danach seltener in Filmteams beschäftigt oder am Set diskriminiert zu werden?

Diversität vor der Kamera

Die eben genannte Problematik gilt auch für die Besetzung, denn dort soll ebenso für jede der drittrangigen Rollen ein/e Vertreter*in einer benachteiligten Minderheit zum Casting eingeladen werden (4 a). Geht es dabei um Sichtbarkeit und Identifizierung? Nur, wer sieht, ob ein/e Schauspieler*in homosexuell ist? Oder soll es im Abspann heißen „Die Chefärztin wurde gespielt von einer Lesbe, der Schauspieler des Familienvaters in im wahren Leben schwul?“ Auch ist nicht jede körperliche oder psychische Behinderung sichtbar und zudem nicht etwas, das Menschen unbedingt publik machen. Warum auch?
Was ist für Sichtbarkeit und Identifikation wichtiger, die Schauspieler*innen oder die Charakterisierung der Rollen? Was zur Frage führt, ob LGBTQ-Rollen nur von LGBTQ-Schauspieler*innen gespielt werden dürfen und umgekehrt, und so weiter. In der Vorabendserie RENTERCOPS gehört die lesbische Dezernatsleiterin Vicky Adam zum Hauptcast, und da ist es nebensächlich, ob Schauspielerin Katja Danowski das auch ist oder nicht – ich finde es einfach gut, dass diese Figur ganz normal im familienfreundlichen Vorabendprogramm vorkommt. In SOLO: A STAR WARS STORY gibt es eine Figur – Lando Calrissian – der auch schon in DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK vorkam (und da glaube ich die erste nicht-weiße menschliche Figur war?). Jedenfalls, jetzt sagte Koautor Jonathan Kasdan, dass Lando eventuell pansexuell sein könne. Aha. Und? Kommt das im Film irgendwo vor? Nein. Wird darüber gesprochen? Nein. Ist von Schauspieler Donald Glover bekannt, dass er pansexuell ist? Auch nicht. Verpasste Chance oder PR-Gag?  (siehe auch QUEERBAITING – Star Wars: Lando Calrissian’s Pansexuality Means Nothing if It’s Not in the Films).

Vor Jahren habe ich den Film SEX&DRUGS&ROCK&ROLL (2010) über den genialen Musiker Ian Dury gesehen, die Hauptrolle spielte Andy Serkis, der im Gegensatz zu Dury keine Kinderlähmung gehabt hatte, aber diese wie viele andere Facetten der Figur sehr mitreißend spielte. Nina LaGrande hat sich auf Leidmedien mit diesem Thema beschäftigt (Behinderung spielen, Eddie Redmayne und der Oscar). Im Tatort FREIES LAND (2018) wird die junge  Maria von der Schülerin Vreni Bock gespielt, die blind ist. Ihre Blindheit ist für die Geschichte eigentlich unerheblich (mein Eindruck, hab den Film aber nur nebenbei verfolgt), aber ergänzt eine weitere menschliche Farbe. War die Rolle schon als Blinde geschrieben, oder hatte die Kindercasterin Franziska Schlattner Vreni für die Rolle vorgeschlagen, weil sie im Casting am besten war und optisch besten zur Mutter-Darstelllerin passte, und dazu war sie eben zufällig blind, und das Drehbuch wurde angepasst?

Der US-amerikanische Regisseur / Autor Dominick Evans gab kürzlich auf Twitter die Challenge aus:

  1. Verspreche, immer Schauspieler*innen mit Behinderungen zum Casting von Rollen, die eine Behinderung haben, einzuladen,
  2. Berücksichtige Schauspieler*innen mit Behinderungen auch bei der Besetzung von Rollen, die nicht als behindert geschrieben sind, z.B. Geliebte, Eltern, Geschwister, Lehrer*innen usw.)
  3. Keine Komparserie ohne Menschen mit Behinderung. 

(Er ist natürlich nicht der einzige der das fordert, auch auf Leidmedien.de ist dies regelmäßig Thema.)

Würde die in der Diversitätsklausel vergeschlagene Besetzungsweise hier überhaupt funktionieren?

Hm. Es scheint in den USA anders abzulaufen als in Deutschland, wenn da tatsächlich für jede Rolle Schauspieler*innen eingeladen werden. Hier werden  – nicht nur – die kleinen Rollen oft per Band besetzt, d.h. nach Sichtung von Fotos und Demobändern. Und für viele der größeren Rollen steht die Besetzung ja bereits fest, insbesondere im ÖR-Fernsehen, da gibt es dann auch keine offenen Castings mit vielen Schauspieler*innen.
Die Idee von Stacy Smith ließe sich aber so übertragen, dass Caster*innen für jede kleine Rollen einfach auch eine Schauspielerin auf die Vorschlagsliste setzen sollen. Nur, wenn diese Rollen als Männer geschrieben sind und wenn die neun anderen Vorschläge Schauspieler sind, ist die Chance für ein Genderswitchen sehr gering, da müssten die Vorschläge schon 50:50 sein. Was soweit ich das von Caster*innen weiß eher funktioniert ist, dass sie in den Drehbuchbesprechungen anregen, eine Rolle umzuwandeln (z.B. den oft bedienten Taxifahrer, der dann zur Taxifahrerin wird), und bei Zustimmung schlagen sie dann mehrere Schauspielerinnen für die Rolle vor. Besser als nichts, aber schon ein bisschen Ergebniskosmetik, ähnlich wie das in der 4. Abbildung der Holzfigurenfotos angedeutete „Lasst uns mal eine weitere Hauptrolle weiblich besetzen, den Rest lassen wir aber so männlich wie er geschrieben ist“, was das Schlumpfinensyndrom fördert. Mehr Sinn macht meiner Meinung nach ein NEROPA- Check für alle Rollen bevor die Besetzung beginnt. Das spart ellenlange Diskussionen über die Definition drittrangiger Rolle.
Und außerdem werden durch ,mindestens eine Schauspielerin zum Casting von den männlichen Rollen einladendie bisherige Rollenverteilung in den Drehbücher und bediente Genderstereotype nicht wirklich infrage gestellt.

Ausblick – Nur ein kleines Stück vom Himmel?

Verglichen mit den Vorschlägen und Modellen, die aktuell in der deutschen und auch anderen europäischen Filmbranche diskutiert werden, kommt der Inclusion Rider etwas zaghaft daher. Aber das muss ja nicht so bleiben.

Liebe A-listed Schauspieler*innen, liebe Produzent*innen und andere Verantwortliche, die Ihr überlegt, eine Diversitätsklausel einzuführen, liebe Stacy Smith:

Keine Angst vor Diversität,
aber hütet Euch vor zu viel Datensammeln über die Menschen, die in der Branche arbeiten wollen.

Keine Angst vor Quoten und Zielvorgaben!
Fordert für die genannten zehn Gewerke 30, 40, 50 % Frauen, das ist effektiver als „auch eine Frau einladen“, denn das kann am Ende auch zu 0 % Frauen auf diesen Teampositionen führen.
Keine Angst vor den großen Rollen!
Vergesst das mit den drittrangigen Figuren. Baut NEROPA in Eure Diversitätsklauseln ein und sorgt für eine Überprüfung aller Rollen. Das führt zu mehr Frauenrollen und auch zu mehr Repräsentanz benachteiligter Minderheiten, zu mehr Sichtbarkeit und zum Abbau von Stereotypen.

Warum freiwillig in Trippelschritten vorwärts kommen wollen?

Was ist daran falsch, mehr zu wollen?
Wenn Du fliegen kannst, dann steig auf!
Wenn der Himmel so groß ist, warum sich nur mit
einem Stück davon zufrieden geben?
Papa, kuck wie ich fliege!

A PIECE OF SKY. aus dem Film YENTL (1983). Text: Alan und Marilyn Bergman, Übersetzung SchspIN.

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