Gender- und Inklusionspolitik im britischen Fernsehen
Aus dem UK, dem Vereinigten Königreich (VK), das seit 1952 eigentlich UQ United Queendom heißen müsste, gibt es zur Zeit schlechte Nachrichten. Der beschlossene Brexit, der angedrohte No-Deal Brexit, der nur von Mitgliedern der Konservativen Partei gewählte neue Premierminister Alexander Boris de Pfeffel Johnson, die fehlende Diskussion über die Rückgabe von geraubter Kunst und Kulturgütern in die Ursprungsländer (Stichwort British Museum), eine erstaunliche Müllpolitik (haben die wirklich kein Pfandflaschensystem?) und und und. Aber darum soll es heute nicht gehen, sondern im Rückblick um etwas, das dort schon sehr weit ist, zumal im Vergleich zu Deutschland: Initiativen und Programme zu Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion in der Fernsehbranche, vor allem hinter der Kamera.
Der Anlass dieser Londonreise
Vor ein paar Monaten hatte mich Oliver Ratcliffe von Westminster Insight nach London eingeladen zur eintägigen Veranstaltung Gender Equality in Television: Behind the Scenes and on the Screen (Geschlechtergerechtigkeit im Fernsehen: Hinter den Kulissen und auf dem Bildschirm). Eine Woche später konnte ich auf Einladung von Head of Diversityy Ade Rawcliffe (Ade wird wie Eddie ausgesprochen) mein Gender und Diversity Tool NEROPA einer kleinen, hochkarätigen Runde beim Fernsehsender ITV vorstellen und sie zur Anwendung bei Serienproduktionen beraten.
Beide Verantwortliche, Ratcliffe und Rawcliffe – das mit den Namen ist wohl Zufall – hatte ich über Anjani Patel, Head of Diversity von Pact (Producers Alliance for Cinema and Television – Produzent*innenallianz für Kino und Fernsehen) kennengelernt. (Anjani wird auf der ersten Silbe betont, wie Anthony oder Marjorie, Patel auf der 2. Silbe, wie Kartell). Pact bzw. Anjani organisiert Inclusive Casting Workshops für interessierte Produzent*innen, bei denen auch NEROPA zur Sprache kommt und ich sie demnächst auch einmal vorstellen werde.
Und Anjani wiederum war mir von der Filmemacherin Rebecca Brand vorgestellt worden, die ich erstmals in dem Text Früh übt sich… vorgestellt habe. Oder war es Jennifer Smith Head of Diversity beim BFI British Film Institute, nach dem NEROPA Symposium im Januar 2017? Oder beide? Denn alle kennen sich, und ich kenne mittlerweile auch schon recht viele, manche nur digital oder fernmündlich, insofern war der Westminster Insight Event en passant auch eine tolle Gelegenheit, alte Bekannte endlich in echt zu treffen – zum Beispiel Leila Kurnaz und Natasha Connors von der britischen Medienaufsichtsbehörde Ofcom. Deren Kollegin Vikki Cook, Director of Standards and Audience Protection bei Ofcom, hielt die Keynote.
Zwischen den beiden Terminen lagen fünf Tage, aber ich wollte nicht hin- und herjetten, also blieb ich auf der Insel. Es ging dann nach dem ITV-Termin per Zug zurück, und ja, die Verbindung Berlin-London ist problemlos machbar. Sie dauert natürlich länger als der Flug und ist idR teurer, aber man hat mehr Platz zum Arbeiten oder Schlafen als im Flugzeug, leiser ist es auch und die Aussicht abwechslungsreicher. Die Strecke führt durch eine Reihe deutscher und belgischer Städte, also kann man ja auch unterbrechen und Leute besuchen. Oder durchfahren. 10 Stunden von Stadtzentrum bis Stadtzentrum. Das geht doch?
Westminster Insight: Gender Equality in Television
Die Konferenz lieferte einen komprimierten Einblick in den aktuellen Stand, Datenmonitoring, Initiativen und Programme, Erfolge, bestehende Mängel und Herausforderungen, unter der Leitung von Lucy Brown, stellvertretende Dekanin an der Screen School des London College of Communication, University of the Arts. In der Ankündigung hieß es:
Im Durchschnitt führen Frauen nur bei 25 % der Fernsehepisoden im Vereinigten Königreich Regie. Ebenso liegt der Anteil der von Frauen geschriebenen Fernsehepisoden in den letzten 10 Jahren bei nur 28 %, und Frauen besetzen deutlich weniger Hauptrollen. Aber es geht nicht nur um Zahlen, die Frauen auf unseren Fernsehbildschirmen spielen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen immer noch deutlich untergeordnetere Rollen.
Unsere ganztägige Konferenz zur Gleichstellung der Geschlechter im Fernsehen wird wichtige Interessenvertreter*innen aus dem gesamten Sektor zusammenbringen, um über die nächsten Schritte zur Unterstützung von Gleichstellungsinitiativen sowohl vor als auch hinter der Kamera zu diskutieren.
Tiff Stevenson (Stand-Up Comedienne / Schauspielerin), Minnie Ayres (Tri-Force Creative Network) und ich bildeten das Panel „Inclusive Casting“. Meine NEROPA-Vorstellung stieß auf großes Interesse, wobei eine Reihe schon von der Methode gehört hatten, und ich bekam auch auf dem Feedback-Bögen hinterher viele positive Rückmeldungen wie „Die Delegierten erwähnten Sie mehrmals als herausragende/n RednerIn des Tages.“ Was mich als wenn ich das richtig erinnere einzige Ausländerin und einzeige Einzelperson ohne Organisation oder Behörde im Rücken natürlich sehr freute.
Ich kann nicht die gesamte Veranstaltung nacherzählen. Deshalb nur der Verweis auf zwei Artikel zur britischen Drehbuchsituation, dargelegt von der brillianten Lesley Gannon vom Drehbuchverband WGGB: in The Stage am 25.4.: Female writers are pigeonholed and considered a bigger risk than men – Writers Guild / „Autorinnen landen in Schubladen und gelten als größeres Risiko als ihre Kollegen – laut Drehbuchverband Writers‘ Guild“ von Giverny Masso, die auch eine digitale Bekannte ist (sie hatte mich 2017 für The Stage zu NEROPA interviewt). Und in Broadcast am 1.5.: German writers protest against gender imbalance / „Deutsche Autorinnen protestieren gegen Geschlechterungleichgewicht“ von Max Goldbart, der bei der Veranstaltung mein Platznachbar war. Max veröffentlichte außerdem in Broadcast am 25.4. Ofcom diversity chief hails industry’s positive steps / „Ofcom Diversitätschefin begrüßt die positiven Schritte in der Branche“ zur Keynote von Vikki Cook.
Wie das bei solchen Veranstaltungen ist, wenn sie gut organisiert sind (Danke nochmals an Oli Ratcliffe und auch an Alexandra Moore von Westminster Insight) und ebenso gut moderiert werden (thank you, Lucy!): regelmäßige Pausen ermöglichen kompakten Austausch mit anderen, allerdings natürlich nicht mit allen – so konnte ich nicht mit Polly Kemp (von Equal Representation for Actresses ERA 50:50) sprechen, da sie früher ging. Dafür habe ich aber eine sehr engagierte Casterin kennengelernt, und die Vertreterin eines Fernsehsenders erzählte mir, dass wiederum ihre Schwester einen NEROPA-Vortrag von mir gehört hatte), und sie die Methode kürzlich bei einer Amateurtheateraufführung angewendet hatte. Und bei der es deutlich mehr Spielerinnen als Spieler gab und ursprünglich mal wieder deutlich mehr Männerrollen als welche für Frauen. Durch NEROPA konnte sie das ändern. Klasse, das hat mich natürlich sehr gefreut, denn die Methode funktioniert ja auch bei Theaterstücken – und bei Romanen, Computerspielen und noch vielem mehr, aber das wäre ein Thema für einen anderen Tag.
ITV und NEROPA
Das wichtigste habe ich ja bereits erzählt, nämlich dass ich bei ITV von NEROPA berichten durfte und dass ein Einsatz der Methode geplant und geprüft wird. Fantastisch! Mehr wenn es so weit ist.
Dann möchte ich noch eine Serienempfehlung von Ade Rawcliffe weitergeben, die sie mir beim Essen gab: TIMEWASTERS! Eine aktuell 2 x 6-Folgen ITV-Produktion, witzig, jazzig, flott – ein Jazzquartett der Gegenwart reist mit einer Zeitmaschine, die ein siffiger Aufzug ist, in die Zwanziger Jahre. Erwähnenswert auch deshalb, weil es mal wieder eine Serie ist, die von einem Schauspieler ausgedacht und in diesem Fall auch geschrieben, wurde: Daniel Lawrence Taylor. Der sagte „Man sieht nicht so viele Schwarze in historischen Dramen oder in Zeitmaschinen, also dachte ich, ich würde versuchen, über beides zu schreiben.“
Auch die BBC 3-Serie FLEABAG wurde von jemandem vor der Kamera bzw. auf der Bühne erdacht, sie basiert auf dem gleichnamigen Stand-Up Comedy Programm der Schauspielerin und Autorin Phoebe Waller-Bridge. Eine andere ältere ITV-Serie, SCOTT & BAILEY, stammt auch von einer, nein, sogar zwei Schauspielerinnen, die in den fünf Staffeln auch mitspielten: Suranne Jones als Rachel Bailey und Sally Lindsay – doch nicht als Janet Scott, weil sie überraschend Zwillinge bekam, deshalb wechselte sie auf die kleinere Nebenrolle Alison Bailey, Rachels Schwester, und Leslie Sharp übernahm die zweite Hauptrolle.
Dass Schauspieler*innen, weil sie kreativ sind oder einfach auch weil sie nicht genug gute Rollenangebote bekommen, selber entwickeln und schreiben, gibt es natürlich nicht nur im UK/UQ.
Apropos Rollenangebote: Kennt Ihr schon den BBC Comedy Zehnminüter LEADING LADY PARTS? – mit einem Wortspiel: leading parts = Hauptrolle, lady parts = weibliche Geschlechtsorgane. Hier geht es um das Casting für eine weibliche Hauptrolle. Buch und Regie Jessica Swale. Witzig und sehenswert!
Ein netter Nebeneffekt dieser Londonreisen ist übrigens, dass ich Filme und Serien in den britischen Mediatheken sehen kann. So diesmal eine Bingenacht mit zwei Staffeln TIMEWASTERS, beim Londonaufenthalt davor – das war ein Tipp von Anjani – KILLING EVE, und noch davor die Serie THE BODYGUARD.
Equity UK, BFI, Northern Ireland Screen
Equity UK
Ich traf diesmal auch wieder Kelly Burke, Schauspielerin und Vorsitzende vom Equity Women‘s Committee, das ist der Frauenausschuss von der Schauspielgewerkschaft. Die Mitglieder werden alle zwei Jahre gewählt, das passierte kürzlich, im Fall des Women‘s Committee gab es ca. 19 Kandidatinnen für 9 Plätze, also eine richtige Auswahl. Wahlberechtigt waren – wie auch bei den anderen drei Gleichstellungsausschüssen Gehörlose und Behinderte, LGBT+ und ethnische Minderheiten nur diejenigen, die vertreten werden, also in diesem Fall weibliche Mitglieder. Das wäre auch etwas, das beim BFFS die leidige Stellvertreterpolitik ersetzen sollte, aber das ist ein Thema für einen anderen Tag. Zurück zu Kelly, die schreibt:
Es war wunderbar, Belinde zu sehen und mehr darüber zu erfahren, wie NEROPA zunehmend von internationalen Sendern angenommen wird. Wir sprachen über die anhaltende Notwendigkeit einer repräsentativen Parität vor der Kamera, was mit NEROPA angegangen wird. Und wir sprachen über die neuesten Projekte des Women‘s Committees zu „aesthetic labour“ (Besetzung die nur auf gutem Aussehen basiert), und darüber, den weiblichen Gewerkschaftsmitgliedern wichtige Informationen zu Themen wie Kinderbetreuung, Wechseljahren, Arbeitsrechten, sexueller Belästigung, niedrigen Löhne und so weiter leichter zugänglich zu machen.
Das sind auch für die deutsche Branche relevante Themen, die unsere Gewerkschaft noch nicht auf dem Zettel hat. Aber da gibt es ja auch keinen Frauenausschuss.
Ein anderes, ebenfalls wiedergewähltes Mitglied des Equity Women‘s Committee, Jean Rogers, (Gut gemacht, Schwester Equity!) hatte übrigens die erste Treffen wegen NEROPA in London angestoßen, und sie war auch die treibende Kraft hinter dem NEROPA Symposium am BFI 2018.
BFI
Wir haben in Deutschland keine Institution, die mit dem British Film Institute BFI vergleichbar wäre und eine ähnliche Aufgabenvielfalt abdeckt, Zum BFI heißt es auf der Webseite:
Das BFI wurde 1933 gegründet. Wir sind eine Wohltätigkeitsorganisation, der eine königlichen Satzung („royal charter“) zugrunde liegt. Wir übernehmen kulturelle, kreative und industrielle Rollen, indem wir das BFI Nationalarchiv und die BFI Reubenbibliothek, Filmverleih, Ausstellungen und Bildung bei der BFI Southbank und BFI IMAX, Verlage und Festivals zusammenführen. Wir vergeben Lotteriefördermittel für Filmproduktion, Vertrieb, Bildung, Zielgruppenentwicklung sowie Marktintelligenz und Forschung.
Das BFI hat die auch im internationalen Vergleich sehr weit reichenden Diversity Standards beschlossen, deren zumindest teilweise Erfüllung Voraussetzung für die Vergabe von Fördermitteln (aus Lottoeinnahmen) ist. Um dies zu erleichtern werden auf der BFI-Webseite Resources, das sind verschiedene Organisationen oder Methoden gelistet:
Die BFI Diversity Standards sollen Produzenten und Projektleiter ermutigen, ihr Denken in Frage zu stellen und Chancen zu eröffnen. Die Erfüllung oder Überschreitung der Kriterien erfordert Gespräche im Vorfeld über kreative Inhalte, Rekrutierungspraktiken und Strategien zur Publikumsverbindung. NEROPA ist in die Ressourcen des BFI aufgenommen, das ist eine Liste von Lösungen, Kontakten und Datenbanken, um Projekte integrativer zu gestalten und die BFI Diversity Standards zu erreichen.
Northern Ireland Screen
Eine weitere Stelle, die Lottomittel vergibt ist die in Belfast angesiedelte Institution Northern Ireland Screen. Der Kontakt zu ihnen kam bei der Equity NEROPA-Veranstaltung letzten Oktober zustande.
NI Screen führte Anfang 2019 eine NEROPA-Veranstaltung durch (siehe auch Unterwegs auf der Grünen Insel – #WakingTheFeminists) und integrierten den Kern der Methode in eine ihrer Förderungen. Andrew Reid, Head of Production, schreibt dazu:
Northern Ireland Screen hat Belinde im Januar 2019 nach Belfast geholt, um unserem Sektor die Problematik zu erklären und ihre Lösung NEROPA vorzustellen. Die teilnehmenden Autor*innen, Regisseur*innen und Produzent*innen waren sich einig, dass diese Themen angegangen werden müssen und waren bestrebt, die Prinzipien von NEROPA anzuwenden. Mit dem Konzept von NEROPA im Hinterkopf und der Übernahme des Modells einer dreiköpfigen Steuerungsgruppe haben wir ein verbindliches Monitoring der wichtigsten Veränderungen geschlechtsneutraler Rollen und Diversitätsmöglichkeiten für Produzenten eingeführt, die in der ersten Phase der Entwicklungsfinanzierung ab April 2019 eine Förderung beantragen.
Es ist schon bemerkenswert, wie groß die Lottoeinnahmen in Großbritannien und Nordirland sind und dass dadurch umfangreiche, wichtige Filmförderungen finanziert werden können, anders als bei uns in Deutschland, wo zwar auch Mittel der Lottostiftungen in kulturelle und wohltätige Projekte fließen, die größten Filmförderungen aber aus staatlichen Mitteln kommen.
Nachtrag: ein 50:50 Wettbewerb in der BBC
Und es geht noch weiter. Miranda Wayland vom BBC hatte beim Westminster Insight Event von einer spannenden 50:50-Initiative innerhalb der BBC berichtet. Jetzt Im Juli veröffentlichte Barbara Marti auf dem Schweizer INFOSperber-Seite einen Artikel zum Thema: Warum Frauen in der britischen BBC jetzt mehr zu sagen haben.
Kürzlich zog die BBC nach einem Jahr eine erfreuliche Bilanz: Vor einem Jahr startete der Wettbewerb mit knapp 100 Redaktionen. Nur eine von vier dieser Redaktionen erreichte damals einen Frauenanteil von 50 Prozent bei den Protagonistinnen und Protagonisten der Beiträge. Ein Jahr später waren es drei von vier dieser Redaktionen. Zum Erstaunen von BBC-Chef Tony Hall gelang es auch Sportredaktionen und dem englischsprachigen Sender BBC Arabic, die Frauenanteile in den Beiträgen zu erhöhen. Die Redaktionen widerlegten das gängige Argument, dass es zu wenig Frauen als Expertinnen gebe. Tony Hall: «Dieser Wettbewerb zeigt, was man erreichen kann.»
Das macht Hoffnung. Lesenswert. Und nachahmenswert.