SchspIN

Gedanken einer Schauspielerin

Wann ist eine Geschichte gut?

Wann ist eine Geschichte gut? – Deutscher Filmpreis für das beste Drehbuch

  • Lola für das beste Drehbuch
  • Lola für das beste unverfilmte Drehbuch
  • Dankesrede „Aber auf den zweiten Blick…“
  • Wann ist eine Geschichte gut?
  • Schuster bleib bei Deinen Leisten
  • Chancen für diverse Autor:innen
  • Gläserne Filmschaffende
  • Neue Wege – Think outside the Box
  • Wer kann das?
  • Sie können das!

Lola für das beste Drehbuch

Am 24.6.22 wurden in Berlin die Deutschen Filmpreise, auch Lolas genannt, verliehen. Die in allen Kategorien nominierten Filme werde ich demnächst ausführlicher analysieren, u.a. mit einem 6-Gewerke-Check. Heute sei nur erwähnt, dass Thomas Wendrich mit LIEBER THOMAS den Deutschen Filmpreis für das beste Drehbuch gewann.

Das ist aber nicht die einzige Drehbuchauszeichnung, denn es gibt außerdem eine Lola für das beste unverfilmte Drehbuch, und die wurde vor knapp drei Wochen am 5. Juli auf einer Veranstaltung des Drehbuchverbands (mit dem unglücklichen Namen VDD Verband Deutscher Drehbuchautoren) und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien BKM Claudia Roth in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz – unter beängstigend laxen Coronapräventionsregeln – überreicht.

Obwohl ich auf der Gästeliste stand war es gar nicht so leicht, reinzukommen. Hat aber am Ende geklappt

Lola für das beste unverfilmte Drehbuch

Die Jury (namentlich Drehbuchautorin Brigitte Drodtloff, Regisseur, Autor und Filmproduzent Florian Eichinger, Autorin Susanne Finken, Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent Uwe Janson, Drehbuchautor Sven Poser und Buch- und Drehbuchautorin Vanessa Walder) hatte aus allen Einreichungen, deren Gesamtzahl ich leider gerade nicht finden kann, drei Bücher nominiert:

  • FRIEDA – KALTER KRIEG von Fritz Hassenfratz,
  • IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN von Daniela Kniep und Emily Atef (inspiriert durch den gleichnamigen Roman von Kniep) und
  • MARTIN LIEST DEN KORAN von Michail Lurje und Jurij Saule.

Die Nominierten erhalten 5.000 €, und die Autor:innen des ausgezeichneten Drehbuchs 10.000 € – einschließlich der 5.000 € für die Nominierung. Der bzw. die Preisträger:innen können weitere 20.000 € an Fördermitteln für die Weiterentwicklung ihres Drehbuchs beantragen, wenn es noch nicht fertig ist. Wichtig ist ja für diesen Preis, dass es ein unverfilmtes Drehbuch ist, d.h. zum Zeitpunkt der Jurysitzung unverfilmt. Hierzu schrieb mir freundlicherweise Jurymitglied Brigitte Drodtloff:

Wir haben voriges Jahr die Drehbücher zu lesen bekommen – die meisten wurden von Förderanstalten oder von Fachvereinen eingereicht. Keines der Bücher wurde gedreht oder war geplant, gedreht zu werden. Ende November hatten wir die Jurysitzung und die Preisverleihung war für die Berlinale im Februar geplant. Erneut – keines der nominierten Bücher war verfilmt. In der Zwischenzeit haben einige die Chance bekommen zu drehen. Unsere Sieger produzieren den Film übrigens selber.

Tja, und damit habe ich es schon verraten, aber wahrscheinlich wisst Ihr es sowieso schon: Der Deutsche Drehbuchpreis 2022 ging an Michail Lurje und Jurij Saule für MARTIN LIEST DEN KORAN.

Die Nominierten. In der Mitte mit den Lolas: Jurij Saule und Diana Lurje, Frau von Michail Lurje. 1. von rechts: Felix Hassenfratz (FRIEDA – KALTER KRIEG) 2. von rechts: Daniela Krien (IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN). Foto SchspIN

Und so begründete die Jury im Frühjahr die Nominierung von MARTIN LIEST DEN KORAN:

Echtzeitdrama? Thriller? Religiöser Diskurs? Das Buch von Michal Lurje und Jurij Saule ist all das und noch viel mehr. Im Mittelpunkt: ein harmlos wirkender Familienvater mit iranischen Wurzeln und ein Professor für Islamwissenschaft. Der eine bittet den anderen zu einem Gespräch über Glauben und Unglauben, Gut und Böse und über die Frage, ob die Gebote des Koran mit Gewalt vereinbar sind. Was scheinbar harmlos beginnt, entwickelt sich zu einem mentalen Kräftemessen, als dem Professor klar wird, dass sein Besucher einen Anschlag plant – und die Bombe bereits scharf macht. Nichts steht fest, nichts ist so, wie es scheint in diesem Kammerspiel, das drängende Fragen nach Hass und Versöhnung, den Ursachen der Radikalisierung, gegenseitiger Achtsamkeit und einer Welt mit und ohne Gott stellt. Ein hochspannender, provokant-psychologischer Drahtseilakt, der virtuos mit den Erwartungen des Publikums spielt und sie konsequent unterläuft.
Quelle: Pressemitteilung 98, BKM 11.3.22

Foto: SchspIN

Jurorin Brigitte Drodtloff wünschte sich und dem Drehbuch übrigens noch, dass es bei der Verfilmung so wenig wie möglich, am liebsten gar nicht verändert würde. Dafür stehen die Chancen sehr gut, denn Koautor Jurij Saule ist auch noch Regisseur und Editor dieses Projekts. Und hinter der Produktionsfirma Blobel Film steht Michail Lurje. Edit 4.8.22 und Jurij Saule!

An dem Abend sprach jemand auf der Bühne von 30.000 €, also 10.000 € Preisgeld und 20.000 € Weiterentwicklungsförderung. Formal ist das Projekt zwar bereits abgedreht (4. Drehbuchfassung, 30 Drehtage im Februar und März, Produktionsförderung vom BKM und dem mbb), aber wer weiß, es haben sich ja durch Corona alle mögliche Fristen und Termine verschoben, und wie starr die Regelung zu handhaben ist weiß ich auch nicht.

Edit 4.8.22 wieder etwas dazugelernt! Tatsächlich fördert das BKM entweder die Weiterentwicklung des ausgezeichneten Drehbuchs oder in „begründeten Ausnahmefällen (…) die Herstellung eines neuen Drehbuches mit künstlerischer Qualität oder (…) die Projektentwicklung eines Films auf Grundlage des ausgezeichneten Drehbuchs“. (§ 24 (4) Richtlinie für die kulturelle Filmförderung der BKM vom 17. März 2017)

Michail Lurje konnte leider bei der Preisverleihung nicht anwesend sein. Die Auszeichnung nahm – gemeinsam mit Koautor Jurij Saule – Michails Frau Diana für ihn entgegen. Sie verlas auch seine Dankesrede, die ich mit seiner freundlichen Genehmigung abdrucken darf. Hierfür möchte ich mich herzlich bedanken. Ein besonderer Dank außerdem für das eigens für diesen Artikel angefertigte Foto und die Erlaubnis es hier zu veröffentlichen. (Mir war vorher noch nie aufgefallen, dass die Lola so ausgeprägte Gesichtszüge hat)

Dankesrede von Michail Lurje

„Aber auf den zweiten Blick… vielleicht die beste Idee, die ich je hatte.“

Das Foto zeigt den Drehbuchautor Michail Lurje, einen ernst blickenden Mann mit Brille, leichtem Bartansatz und Halbglatze, der in seiner linken Hand die goldene Lola-Statue als Deutschen Filmpreis hält. Die Lola blickt in die Kamera, ihre Gesichtszüge sind deutlich zu erkennen.

Michail Lurje mit seiner Lola. Foto Diana Lurje.

Ich bin ein in der Sowjetunion geborener Jude, der 5 Jahre seines Lebens darauf verwendet hat, um ein Drehbuch über die Deutung des Korans zu schreiben – auf den ersten Blick keine so gute Idee.

Aber auf den zweiten Blick… vielleicht die beste Idee, die ich je hatte.

Warum bringe ich das an? Weil ich wirklich tief davon überzeugt bin, dass wir eine Geschichte nicht danach bewerten sollten, wie gut sie zu unserer Identität passt, sondern nur danach – und das klingt im Jahre 2022 vielleicht gewagt – wie gut die Geschichte selbst ist.

Wenn eine Story nur aus persönlicher Erfahrung erzählt werden darf, dann kann jeder Autor ganz genau einen Tatort in seinem Leben schreiben, weil er danach ganz sicher von den echten Kommissaren in Handschellen abgeführt wird.

Eine Geschichte irrt sich nicht mit der Adresse: Wenn sie dich gefunden hat, dann wollte sie aus irgendeinem Grund genau zu dir und du solltest sie gastfreundlich bei dir aufnehmen, egal welche Hautfarbe, Nationalität oder sexuelle Orientierung sie in ihrem Mittelpunkt hat – das ist für mich Toleranz und Gleichberechtigung. Ich finde, es ist der eigentliche Sinn des Berufs eines Autors, dass wir in die Haut uns völlig fremder Menschen schlüpfen dürfen. Uns diese Möglichkeit unter dem Vorwand von “political correctness” oder neudeutsch “wokeness” zu nehmen, ist leider nur ein Euphemismus für Selbstzensur.

Ich möchte der Jury dafür danken, dass sie den Mut hatten, sich auf unsere Geschichte einzulassen.

Ich möchte dem Jurij dafür danken, dass er mit mir jeden Buchstaben dieses Drehbuchs gedreht und gewendet hat, bis sich doch noch irgendetwas Sinnvolles daraus geformt hat.

Und ich möchte meiner Hauptfigur Martin danken, die mich so gastfreundlich in ihre dunkle Haut hat schlüpfen lassen, mich fünf Jahre lang immer aufs neue überrascht, begeistert und auf die beste Weise verstört hat und die den Inhalt dieser Rede mit nur zwei simplen Worten viel besser auf den Punkt gebracht hätte: Alahu Akbar! Vielen Dank.

Wann ist eine Geschichte gut?

Michail Lurje spricht etwas an, dass schon seit längerer Zeit in der Branche und in der Gesellschaft diskutiert ist, Identität und Werk. Wer darf oder kann was? Wer kann ein Buch, ein Gedicht übersetzen, wer kann eine Rolle spielen, wer ein Drehbuch schreiben? Wie ist das mit Repräsentanz und Vielfalt? Muss ich als Schauspieler:in oder Autor:in zur gleichen Gruppe wie meine Rolle bzw. die Hauptfigur gehören? Und wie ist diese Gruppe definiert? Über die Hautfarbe, das Alter, die Körperlichkeit, mögliche physische und psychische Einschränkungen, die Gesellschaftsschicht oder Region, in die / der ich geboren wurde? Die Familie? Sexuelle Präferenzen? Und wenn das alles kongruent ist, was ist mit den anderen Figuren meiner Geschichte, die womöglich nicht zur selben Gruppe gehören? Muss ich dafür adäquate Koautor:innen suchen?

Wie kann es sein, dass wir so oft ,schlechte Filme‘ sehen, obwohl (oder gerade weil?) Autor und Hauptfigur nicht so weit auseinander liegen?

Was ist mit meinen Beobachtungen, mit Recherchen, zählen die gar nicht? Muss ich schon mal jemanden umgebracht, oder zumindest jemandem physische Gewalt angetan haben, um in die Psyche einer Mörderin schlüpfen zu können? Reichen sechs Wochen mit Orthese und Krücken als Eintritt in die Welt der Beinamputierten? Muss eine Frau ein Kind geboren haben, um eine Mutter zu spielen? Ein Kind verloren haben, um über eine Fehlgeburt zu schreiben? Eine Abtreibung erlebt oder durchgeführt haben, impotent sein oder depressiv, um darüber schreiben zu können oder reichen die Angst davor oder die eigene Fantasie? Muss ich eine Habilitationsschrift verfasst haben um die Gedankenwelt von Professor:innen nachzuvollziehen, geflüchtet sein, aus einem anderen Kulturkreis stammen, nicht-binär, homosexuell oder alt, um darüber zu schreiben, oder reicht es, wenn ich da jemanden kenne?

Vor der Kamera ist es oft andersrum. So erhöht/e es eine Zeitlang die Chancen auf eine Auszeichnung bei den Academy Awards deutlich, – das sind die stark kommerziell motivierten Filmpreise der USA, – wenn man (ja, vor allem Mann) jemanden mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung gespielt hatte. Auch für die Darstellung von Schwulen (ja, vor allem männliche Homosexuelle) gab es gerne mal einen Preis, vermutlich auch, wenn man klar gezeigt hatte, dass man im echten Leben hetereosexuell unterwegs war. Die hohe Kunst jemanden aus einer anderen Gruppe zu verkörpern ist preiswürdig (hm, geht es im Grunde nicht bei Schauspiel auch darum?).

Wobei ich finde, weder eigene Erfahrungen noch Recherchen oder angeeignete Kenntnisse sind eine Garantie für gute Filme, hochwertige Drehbücher, berührende Geschichten, identifizierbare Figuren. Eigene Erfahrungen verhindern nicht per se Ärger oder Langeweile beim Publikum.

Wie sagte Jürgen Kolbe in der 1957er Verfilmung der ZÜRCHER VERLOBUNG (Buch Barbara Noack, Heinz Pauck und Helmut Käutner, Regie Helmut Käutner) so treffend zu Juliane Thomas, der angehenden Drehbuchautorin:

Das mag ja für Dich ganz spannend sein, aber ob das das Publikum interessiert…“

Doch zurück zu Michail Lurje und dem Drehbuchpreis.

Schuster bleib bei Deinen Leisten

Ich finde, es ist der eigentliche Sinn des Berufs eines Autors, dass wir in die Haut uns völlig fremder Menschen schlüpfen dürfen. Uns diese Möglichkeit unter dem Vorwand von “political correctness” oder neudeutsch “wokeness” zu nehmen, ist leider nur ein Euphemismus für Selbstzensur.

Michail Lurjes Rede lässt vermuten, dass seine Geschichte, die zwar zwei Männer im Zentrum hat aber auch das Thema Koran behandelt, also von einer Religion handelt, der er selber nicht angehört, eventuell Verwunderung bis hin zu Kritik ausgelöst hat. Beziehungsweise die Tatsache, dass er so eine Geschichte überhaupt erzählt.

Neulich hörte ich, dass nur einer der Antisemitismusbeauftragten von Bund und Ländern Jude ist, und sie scheinen auch immer Männer zu sein. Es heißt Juden oder Jüdinnen gibt es weder in der Bundesregierung noch überhaupt im Bundestag, aber das müsste ich mal recherchieren. Fiel mir nur gerade bei Repräsentanz und Zugehörigkeit ein. Zurück zum ausgezeichneten Drehbuch!

Lurje erfindet einen älteren Professor der Islamwissenschaft und einen liebevollen Familienvater. Hat er selber studiert, promoviert? Hat er eigene Kinder? Ist er alt genug einen älteren Mann und dessen Gefühlswelt zum Leben zu erwecken? Teilt er vergleichbare Emotionen mit denen eines Attentäters? Können wir überhaupt über Emotionen schreiben, die nicht unsere eigenen sind?

Helen Lewis schrieb am 14.10.15 im New Statesmen (Abi Morgan on Suffragette: “These were voiceless women. We gave them a voice”):

Sie [Autorin Abi Morgan] kennt viele Geschichten von Journalist:innen, die Schwierigkeiten hatten, die höfliche, optimistische Frau, die sie vor sich sehen, mit den dunklen Welten, die sie erschafft, in Einklang zu bringen. „Heute Morgen fragte mich jemand im Interview: ,Waren Sie hinterher richtig wütend auf die Welt, waren Sie so richtig sauer, waren Sie zu Hause so richtig mies drauf?‘ Und ich sagte: ‚Fragen Sie das einen Mann, nachdem er einen Actionfilm geschrieben hat? Erwarten Sie, dass er die Treppe hinunterrollt, eine Waffe zieht und seine Frau erschießt?'“

Zurück zu Michail Lurje. Was ist, wenn er nicht MARTIN LIEST DEN KORAN sondern MIRIAM LIEST DEN TALMUD geschrieben hätte, würde da irgendjemand Anstoß nehmen? Ein Jude schreibt über was Jüdisches, gebongt. Äh, aber ein Mann über ne weibliche Hauptfigur? Na und, sie ist Jüdin, das passt schon.

Im Gegensatz zu Charakteren, die Minderheiten angehören, was immer mal wieder heftige Wellen auslöst, scheinen alle Autoren Frauenfiguren zu ,können‘. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass weibliche Hauptfiguren oder Filme zu ,Frauenthemen‘, die von Männern geschrieben wurden, deswegen in Frage gestellt würden, oder dass beispielsweise das Frauenbild im Film von Christian Petzold – er hat ja meistens eine weibliche Hauptfigur – je thematisiert worden wäre, wenn wir mal von der Handvoll kritischer Twitterkommentare zu seinem letzten Matthias Brandt-Polizeiruf absehen (Stichwort Kollegin Nadja Micoud und die Ex stalken – siehe auch Nachgereicht: Der Polizeiruf 110 hinter der Kamera). Und von BABYLON BERLIN will ich gar nicht erst wieder anfangen (zum Nachlesen hier).

Im Grunde ist es mir ziemlich egal, wer eine Geschichte erfunden und geschrieben hat, solange das Buch gut und schlüssig und überraschend und genial und berührend ist oder zumindest positiv unterhält ohne ärgerlich zu sein.

Nicht egal ist mir, wenn ganze Gruppen bei der Drehbuch-Auftragsvergabe unberücksichtigt bleiben. Das trifft in Deutschland – aber nicht nur hier – zunächst die Frauen. Sie, die um die 50 % der Gesellschaft ausmachen und um die 50 % der Leute, die ihren Abschluss an den Filmhochschulen im Fach Drehbuch machen.

Das ist diskriminierend, und es bleibt nicht ohne Spuren. Denn was sieht das Publikum? Geschichten, die zu 80 % von Männern erdacht und geschrieben wurden. Das ist höchst einseitig. Und beeinflusst uns alle, unser Denken, unsere Sicht auf die Welt, auf uns und andere, von jungen Jahren an.

Ich erwähne das, da es mitunter unterzugehen droht. Es wird so sehr auf Diversität geachtet, aber Geschlechtergerechtigkeit bleibt außen vor, oder sie wird zu ,Frauen und andere Minderheiten‘ oder ,die Frauen sind ja mitgemeint‘. Oder besonders schlimm: ,es wurde jetzt so lange über Frauen geredet, jetzt sind mal andere dran‘. Als ob der eine Fehler verschwindet, wenn man auf einen anderen blickt.

Ja, gewiss, es gibt noch viele andere Gruppen – die Diversitäten – die unterrepräsentiert sind, deren Sicht auf die Gesellschaft, auf Verbrechen, Liebe und Politik, ihre Zukunftsvisionen und -ängste, ihr Humor und ihre Kultur uns in Drehbüchern zu oft vorenthalten bleiben. Auch da besteht akuter Handlungsbedarf. Nur stimme ich der Forderung ,Geschichten von Schwulen / Migrant:innen / Rollstuhlleuten / Alten / Ostdeutschen sollten nur von Autor:innen dieser Gruppen erzählt werden‘ nicht zu.

Einschub: ich werde jetzt um das Schreiben und Lesen zu vereinfachen von Übergangenen sprechen und nicht mehr von Angehörigen von Minderheiten, von diskriminierten Gruppen, finanziell Benachteiligten u.ä.

Ich habe mich in den letzten beiden Kapiteln nur auf Michail Lurje bezogen, obwohl ich weiß, dass er und Jurij Saule gemeinsam das Drehbuch von MARTIN LIEST DEN KORAN verantworten. Nur haben die Dankesreden von Lurje und Saule den Eindruck vermittelt, dass es Lurjes Idee war und Saule später dazu kam. Das kann ich aber gerne korrigieren wenn das so nicht stimmt.

Cast ist mehr als Hauptfiguren

Eine politisch-korrekte Beantwortung der Frage, wer was schreiben darf und kann, kommt an ihre Grenzen, wenn es in einem Film mehr als zwei, drei Figuren gibt, und die keine Klone der Hauptfigur sind. Selbst ein Hauptcast ist mehr oder weniger heterogen, dazu kommen wichtige und weniger wichtige Nebenrollen. Was ist dann?

Hier sind Autor:innen gefragt, die Breite können, Vielfalt, die über Empathie und eine gute Beobachtungsgabe verfügen. Und – das sei nicht vergessen – die zuhören und gut schreiben können.

Dann können sie nicht nur spannende oder unterhaltliche Plots schreiben, sondern auch diverse Individuen kreieren, jedes Mal auf’s Neue.

Ein Beispiel, kein deutscher Kinofilm, sondern eine britische Serie: IT‘S A SIN (Arbeitstitel: THE BOYS, im UK erstausgestrahlt Januar 2021 auf Channel 4, in D seit Juni 2021 auf Starzplay).

Diese fünfteilige Serie spielt zwischen 1981 und 1991 überwiegend in London und schildert das Leben einer Gruppe schwuler Männer und ihrer Freunde während der HIV/AIDS-Krise hauptsächlich in London. Neben den jungen und auch einigen älteren Schwulen und wenigen männlichen Heterosexuellen gibt es ein paar Frauenfiguren, und die sind richtig gut: Allen voran „Pink Palace“-Mitbewohnerin und Aids-Aktivistin Jill, und auch die Mütter von Richie und Colin. Pink Palace ist eine WG, in der die schwulen Richie, Colin, Ash und Roscoe und wie gesagt Jill wohnten, zwei von ihnen sterben im Laufe der Serie an Aids.

Die Serie wurde kreiert und geschrieben von dem walisischen Drehbuchautor Russel T Davies der offen schwul lebt und für die Serie aus seinen eigenen Erfahrungen und seinem Freundeskreis in den 1980ern schöpfte. Fast alle schwulen Rollen in IT‘S A SIN wurden mit schwulen Schauspielern besetzt, Davies sagte dazu, „Für diese fünf Stunden wollte ich einen sicheren Raum schaffen, in den schwule Schauspieler freiwillig kommen und sie selbst sein können“ (Ex-Doctor Who boss Russell T Davies wants It’s A Sin star to be new Doctor). Er hatte auch durchgesetzt, dass dass ein schwuler Regisseur engagiert wurde, Peter Hoar.

Also eine zeitgeschichtliche bzw. historische Serie (period drama), die ein wichtiges Kapitel britischer – nicht nur schwuler – Geschichte erzählt, von einem schwulen Creator und Autor stammt, mit schwulem Cast und Regie. Nur: ein Großteil der Handlung basiert auf den Erfahrungen, Erzählungen und Beobachtungen einer heterosexuellen Frau, Jill Nalder. Sie und Davies lernten sich mit 14 in Wales kennen und sind seitdem befreundet. Nalder zog mit 19 nach London, machte eine Schauspiel- und Musicalausbildung, spielte am West End Theater. In den 1980ern wohnte sie mit drei Männern in einer WG, die sie „Pink Palace“ nannten. Jill wurde HIV/Aids Aktivistin, sie machte bei etlichen Spendenkampagnen mit, unterstützte HIV-Infizierte und Aids-Erkrankte und besuchte viele von ihnen regelmäßig auf den AIDS-Stationen von Krankenhäusern in London und Umgebung. Davies lebte zu der Zeit in Oxford, also eher fern vom Geschehen. Während er 2020 die Serie entwickelte erzählte ihm Nalder ihre Lebensgeschichte, ihre Erlebnisse und unzählige Einzelschicksale aus der Zeit – die Eingang in die Drehbücher fanden. Sie selbst inspirierte Davies zur Serienfigur Jill Baxter (gespielt von Lydia West), deren Mutter Christine sie spielte – also gewissermaßen ihre eigene.

Für manche Kritiker:innen steht Jill im Zentrum der Serie, als eine

(…)Hommage an die ruhige, anspruchslose Armee von Frauen, die Aids-Opfern in ihren einsamsten Stunden beistanden – eine Gruppe, die in der offiziellen Geschichte der Epidemie oft übersehen wird, die sich verständlicherweise auf die Notlage schwuler Männer konzentriert, von denen seit 1981 etwa 10.000 an Aids gestorben sind (und die immer noch 53 Prozent der neuen HIV-Diagnosen ausmachen).
The real Jill from It’s A Sin on living through Aids: ‘I sat at my friends’ bedsides and held them until they died’

Das war jetzt sehr ausführlich. Aber zum einen ist IT‘S A SIN wirklich eine bemerkenswerte Serie, und falls Ihr sie noch nicht kanntet seid Ihr jetzt hoffentlich neugierig geworden (guckt sie möglichst auf Englisch, allein schon wegen der Akzente!).

Und zum anderen, und das ist der Grund warum ich sie in diesem Artikel erwähne, verdeutlicht der Entstehungshintergrund, dass die Frage, ob der/die Autor:in zur selben Gruppe wie die Hauptfigur/en gehört, oft zu kurz greift und womöglich tolle Filme und Serien verhindert.

Denn was wäre, wenn Jill Nalder ihre Geschichte und die zahlloser Londoner Schwuler nicht an Davies weitergegeben, sondern IT‘S A SIN selbst erschaffen und geschrieben hätte (vorausgesetzt sie ist auch Autorin)? Wäre sie dann eine von dieser Fremden gewesen, die sich eine Geschichte um vier Schwule aneignet?

Chance für diverse Autor:innen

Klar bin ich dafür, dass hinter der Kamera mehr Diversität herrscht (vor der Kamera hab ich mit NEROPA ja bereits einen Weg aufgezeigt), dass es mehr Repräsentanz und Sichtbarkeit gibt und mehr Menschen ihre Geschichten erzählen können.

Nur denke ich, dass wir weniger darüber sprechen sollten, wer was schreiben – oder spielen oder übersetzen – darf und wer nicht, sondern stattdessen darüber, wie eine größere Teilhabe von Übergangenen Gruppen im Autor:innenpool erreicht werden kann. Oder auf deutsch: wie mehr Autor:innen benachteiligter Gruppen Aufträge in Film- und Fernseh-/Streamingproduktionen bekommen können.

Die Umsetzung ist vielleicht etwas schwieriger als man meinen sollte, denn wie können Produzent:innen und Redaktionen feststellen, ob jemand zu den Übergangenen gehört, wie die Diversitätsmerkmale (doofer Ausdruck) herausfinden? Immer vorausgesetzt, dass die übrigen Kenntnisse passen, also Drehbuchveröffentlichungen, Teamerfahrung und so weiter. (wir denken an „bei gleicher Qualifikation werden bevorzugt eingestellt….“).

Ich finde es nicht gut, wenn Menschen ihre persönlichen und privaten Daten der ganzen Welt mitteilen, oder auch nur in der Branche zur Verfügung stellen müssen.

Wenn Schauspieler:innen oft weniger nach schauspielerischen Fähigkeiten oder Charisma vorsortiert werden sondern vielmehr nach Äußerlichkeiten wie Geschlecht, Alter, Haarfarbe, Figur / Größe, Sprach- und Dialektkenntnisse liegt das daran, dass sie vor der Kamera arbeiten und im Film sichtbar sind. Die ersten Suchbegriffe in den Datenbanken sind Geschlecht und Altersspanne. Im Film oder Fernsehen kann ich als 54-jährige Frau nicht mehr Pünktchen und gar nicht Anton (in PÜNKTCHEN UND ANTON) spielen, am Theater ginge beides.

Für das Drehbuch sind aber die meisten Diversitäten, und dazu gehört auch das Alter der Autor:innen, irrelevant. Ein Drehbuch oder eine Bewerbung für einen Writer‘s Room abzulehnen nur weil die Autorin 54 ist wäre Altersdiskriminierung, die es in der Branche ganz klar gibt, und die gegen das Grundgesetz verstößt.

Also was tun?

Für die meisten Autor:innen scheint es kein Problem zu sein, ihr Geschlecht anzugeben, die allermeisten sind binär, Frauen oder Männer. Ich hatte bei meinen statistischen Analysen seit 2013 jedenfalls noch nie Probleme, das Geschlecht der Drehbuchleute herauszufinden. Die Benachteiligung von Autorinnen abzubauen ist auf den ersten Blick also nicht so schwer. (Erinnert Ihr Euch noch an die Erstveröffentlichung der HARRY POTTER-Romane? Der Verlag Bloomsbury Publishing riet der Autorin Joanne Rowling, nicht als Frau zu veröffentlichen, da das für die Jungen-Zielgruppe abschreckend sein könnte. Daher J.K.).

Das Alter herauszufinden ist da schon deutlich schwieriger. Wie wird es dann erst mit anderen Attributen? In Kurzbiographien gucken – wenn es denn welche gibt? Von Michail Lurje hab ich nur diese gefunden: Moviepilot

Edit 4.8.22 ganz schlecht recherchiert! Das war der Eintrag zu einem Michael Lurje. Stattdessen also dieser Link, da ist es der richtige Lurje, allerdings ohne biographische Angaben: crew united

Nach dem Foto urteilen? Von Michail Lurje hab ich online keins gefunden (btw: das in diesem Text dürft Ihr nicht ohne seine Erlaubnis verwenden!). Fotointerpretationen finde ich sowieso eine grauenhafte Vorstellung, hm, könnte der aus Indien stammen, sieht der unversehrt aus, schwul, sehend, psychisch stabil?

Oder vom Namen auf den Hintergrund schließen? Wieder Michail Lurje: Michail verrät es vielleicht, diese russische Variante von Michael steht in Deutschland auf Platz 984 der vergebenen Jungennamen (Quelle), also kommt er oder seine Familie vermutlich von woanders her. Und Lurje? Könnte doch auch Friesisch sein, oder nicht? Da heißen Jungen Reentje, Fietje und Tatje, – wobei, das sind allerdings Vornamen. Könnte natürlich auch der übernommene Nachname seiner Frau sein.

Ihr seht schon, die Infos, die wir Schauspieler:innen en masse in Castingdatenbanken eintragen (müssen), um unsere Besetzungschancen zu erhöhen, und die vielleicht zu mehr Diversität in der Besetzung führen können, stehen für das Engagieren von Autor:innen nicht zur Verfügung.

Gläserne Filmschaffende

Nochmal: ich finde es keine gute Idee, wenn sich jetzt alle Filmschaffenden in welcher Hinsicht auch immer outen (sollen), egal ob vor oder hinter der Kamera. Das fand ich schon bei dem unter „Inclusion Rider“ / Diversitätsklausel bekannt gewordenem Vorschlag von Dr. Stacy Smith ein großes Problem: „Keine Angst vor Diversität, aber hütet Euch vor zu viel Datensammeln über die Menschen, die in der Branche arbeiten wollen“ (Der Inclusion Rider – Die Diversitätsklausel), in dem vorgeschlagen wird, dass für die Vergabe der wichtigsten Crewpositionen auch immer mindestens 1 Übergangene/r eingeladen (nicht engagiert) werden soll.

Trotz Abwiegelungen wie „das ist freiwillig, es braucht ja niemand mitzumachen“ erzeugt das schon einen gewissen Druck. Und was wird später? Wenn ich mich für ein Projekt in welcher Hinsicht auch immer offenbare, ist diese Information nun mal draußen, und kann die Runde machen. Mit positiven und negativen Effekten, das heißt mehr oder eben auch weniger Folgeproduktionen. (,Für diesen Film ist jemand mit einer psychischen Erkrankung ja noch prima, da geht es um das Thema, aber in Zukunft bloß nicht mehr, denn der/die ist ja vielleicht labil und funktioniert nicht unter Druck?‘)

Ich kenne genügend Frauen, die bei Bewerbungsgesprächen verschweigen, dass sie Kinder haben. In unserer Branche und auch in anderen. „Was machen Sie denn bloß mit Ihren Kindern wenn Sie bei uns arbeiten und die mal krank werden?“

Kurz, ich finde Privates und Persönliches sind genau das und können es gerne bleiben. Ich tausche mich gerne privat mit Gleichgesinnten aus (David Bowie und ich teilten die selbe körperliche Beeinträchtigung) und über Familiengeschichten reden, gerne, warum nicht. Nur, bitte nicht als Voraussetzung für eine Drehbuchvergabe. Da muss es andere Wege geben.

Neue Wege gehen – Think outside the Box

Wie kann denn nun die relativ homogene Autorenschaft im deutschen Film und Fernsehen aufgemischt werden? Hier ein paar Vorschläge. Ich hab sie mir in mehreren Brainstormingsessions größtenteils selber ausgedacht, und ich finde nicht alle umwerfend, aber sie können eine Diskussion in Gang zu bringen. Ihr findet einen Vorschlag schlecht? Dann macht einen besseren. So wie es jetzt läuft – und ich mache seit 2013 6-Gewerke-Checks, belege also regelmäßig das erschlagende Männerübergewicht im Drehbuchsektor – kann es nicht bleiben, auch nicht in Bezug auf die übrigen Übergangenen. Da muss mehr her als freundliche Absichtserklärungen ohne Biss. Vergesst nicht: In den meisten deutschen Kino-, Fernseh- und Streamingproduktionen stecken öffentliche Gelder, und die können ein effektiver Hebel sein.

Die Liste ist nicht vollständig, die Vorschläge nicht gründlich ausgearbeitet, und die Reihenfolge zufällig.

  • Radikalere Vergabe I. Nehmen wir die TATORTE: jeder (ich sag mal jeder, weil es ja sowieso hauptsächlich Männer sind), der einen TATORT geschrieben hat, muss fünf Jahre pausieren, bis er das nächste Mal darf. Das gleiche gilt für andere Fernsehfilm- bzw. krimireihen. So werden viele Plätze ,frei‘ und andere kommen zum Zug. Gleichzeitig sollten die Honorare und die Zeit, die zum Drehbuchschreiben und -überarbeiten zur Verfügung steht, angepasst werden, aber das ist ein anderes Thema (ebenso der beschlossene Zusammenschluss von Kontrakt 18 und VDD).
  • Radikalere Vergabe II: 50 % der TATORT-Drehbücher und anderer 90 min-Krimis müssen unter der Beteiligung von bzw. von Frauen geschrieben sein. Mag sein, dass Frauen nicht die selben Krimis wie Männer schreiben, aber das ist ja nicht schlecht. Geschichten, die nicht mit dem Fund einer jungen, nackten Frauenleiche beginnen, in denen Kommissarinnen nicht physisch und psychisch gequält werden, her damit! Und das Beste: die ARD als von der Allgemeinheit gebührenfinanzierter Sender ist – zumindest moralisch – dem Artikel 3 GG verpflichtet und auf Einschaltquoten nicht angewiesen. Abgesehen davon, dass die TATORTE sowieso immer von Millionen gesehen werden.
    Wie schrieb Matthias Dell vor ein paar Jahren„Über den „Tatort“ wird so viel geredet, dass man behaupten könnte, der „Tatort“ sei genau dazu da: dass man sich über ihn streiten kann. Dass man am Montagmorgen im Büro neben dem Wetter noch ein anderes, unverfängliches Gesprächsthema hat, bei dem alle mitreden können, weil alle „Tatort“ geguckt haben.“
  • Speeddating, um neue Autor:innen kennen zu lernen. Das könnte ungefähr so ablaufen: wer eingeladen wird (bewerben können sich z.B. alle, die im letzten Jahr kein Drehbuch verkauft haben) bekommt eine Projektskizze, und soundsoviel Tage oder Wochen Zeit, um eine Idee mit Plot, Hauptfiguren und einer Szene zu entwickeln. Ein bisschen wie ein Architekturwettbewerb. So können Produzent:innen oder Redaktionen neue (alte und junge, weiße, türkei-, bulgarien- und vietnamdeutsche, gehörlose und in Elternzeit befindliche) Autor:innen kennenlernen, die ihnen so vermutlich nicht unbedingt über den Weg gelaufen wären.
  • Drehbuchwettbewerb wie ein Orchestervorspiel hinter einem Vorhang mit Teppichboden und ohne Schule. Die gibt es glaube ich schon, da werden dann anonymisierte Exposés oder Drehbücher eingereicht.
  • Gezielte Förderprogramme I. Ich hab kürzlich die Serienstudie 2022 verfasst. Da wird mir immer wieder die Frage gestellt, wie man den Zustand bloß ändern sollte, es gäbe nun mal weniger Frauen, die Creator sein können oder Showrunner, die qualifiziert sind und sich das zutrauen. Dann qualifiziere sie und stärke ihr Selbstvertrauen! Nehmt Geld und macht damit die Förderprogramme. Bildet sie gezielt aus für den Serienmarkt. Frauen. Und andere Übergangene.
  • Quote / Zielvorgabe. Das ist in Hinsicht auf die erschütternd unterrepräsentierten Autorinnen ja noch recht einfach. Überall wo öffentliche Gelder vergeben werden, können 50 %-Quoten / -Zielvorgaben aufgestellt werden.
  • Wer gerne mehrstufige Quoten mag: zusätzlich zu den 50 %-Frauenquoten können andere Quoten für Übergangene Gruppen festgeschrieben werden. (ist sehr kompliziert und nicht so mein Ding).
  • mein Vorschlag #2von6 – bei jeder Film-, TV- oder Streamingproduktion mit öffentlicher (Teil-)Finanzierung müssen zwei der Gewerke Regie, Drehbuch, Kamera, Komposition, Ton und Schnitt Frauen beteiligen. Das reicht natürlich nicht, ist aber ein Baustein.
  • Vor-Nachwuchs anfixen: Storytelling-Workshops und Schülerschreibwettbewerbe, um besonders Kinder aus migrantischen Familien und anderen übergangenen Gruppen zum Schreiben und Erzählen zu motivieren, – vielleicht wollen sie später Autor:innen werden und erfahren von der Möglichkeit, Drehbuch zu studieren. Meine nicht-repräsentativen Erfahrung als Schauspielerin mit Hochschulprojekten ist, dass es viele internationale Studierende in Berlin und anderswo gibt, sie allerdings eher aus west- und norddeuropäischen Ländern bzw. aus USA und Kanada, weniger aus Osteuropa, Afrika, Asien, aus türkei- oder bulgarien-deutschen Familien. Das gilt sowohl für staatliche als auch private Filmschulen. Ist aber nicht-repräsentativ, ich weiß nicht, ob es da Untersuchungen gibt.
  • Gezielte Förderprogramme II für Autorinnen verschiedener Hintergründe für das Kino. Das schwedische Filminstitut hatte solche, bin aber gerade nicht sicher, ob es da nur um Produktion und Regie ging. Sie waren sehr erfolgreich und haben den Anteil der Filme von Produzentinnen und Regisseurinnen bei den nationalen Filmpreisen mehr als deutlich erhöht.
  • Modellprojekt Barrierefreier Writer‘s Room. Just in case, schafft prophylaktisch die technischen und logistischen Voraussetzungen. Macht den Zugang zu Toiletten und Teeküche rollstuhlgerecht, haltet eine/n DGS-Dolmetscher:in bereit, Transkriptionssoftware, und was nicht noch. Macht das publik und macht Ausschreibungen, aus denen hervor geht, dass wirklich alle willkommen sind sich zu bewerben.
  • POLIZEIRUF OST. Der POLIZEIRUF 110 aka TATORT 2.0 wird wieder ostdeutsch. Fünf Jahre Drehbuchvergabe nur an ostdeutsch sozialisierte Autor:innen.
  • Die Fremden: Engagiert für jeden Writers Room Menschen, Leute aus Übergangenen Gruppen, die auf den ersten, zweiten, dritten, vierten Blick rein gar nichts mit dem Thema der Serie, mit den Hauptfiguren, dem Ort zu tun haben. Denn sie gehören dazu, wie wir alle. Frauen, die bei einer Männergeschichte mitschreiben, Ostdeutsche, die über BRD vor 1989 mitschreiben, Rollstuhlfahrer, die nicht über Todessehnsucht sondern bei der Steffi-Graf-Serie mitschreiben, Thai-Deutsche, die beim schwäbischen Provinzdrama dabei sind…
  • Auch möglich: Ausschreibungen wie z.B. „Film-/Serienprojekt um einen Schwulen / Rollstuhlfahrer / Dicken / Einwanderer / Depressiven / sucht gleichgesinnten Drehbuchautor (m/w/d)“. Das würde allerdings ein vielseitiges Outing voraussetzen, was ich ablehne.

Wie gesagt, ich finde diese Ideen nicht unbedingt alle gut. Aber sie befeuern hoffentlich die überfällige Diskussion, nicht über die Statistiken, denn die sind relativ eindeutig, sondern über die Wege zu einer Veränderung. Sie können helfen, den Istzustand in überschaubarer Zukunft aufbrechen, und dass das dringend notwendig ist, aus Gerechtigkeitsgründen aber auch, um der besseren vielseitigeren Geschichten willen, ist hoffentlich unbestritten.

Achja, nicht vergessen, es lassen sich trotz allem Erfolge und Misserfolge nicht voraussehen:

LAST TANGO IN HALIFAX – etliche Jahre gepitcht, bis das Projekt endlich umgesetzt werden konnte. Wer will schon eine Familiengeschichte mit einem 70-jährigen Liebespaar im Zentrum sehen? Anscheinend ganz viele. Fünf Staffeln von 2012 bis 20.

IT‘S A SIN – etliche Jahre gepitcht. Wer will schon eine traurige Aids-Story sehen? Anscheinend ganz viele.

TONI ERDMANN. Wer will schon ein zweieinhalbstündiges Vater-Tochter-Drama in Bukarest sehen? Anscheinend ganz viele.

Wer kann das?

Es heißt manchmal „Frauen können keine Krimis“, wobei ich dieses Zitat leider nicht zurückverfolgen kann, es scheint aber aus einem TV-Kontext zu stammen. Und vielleicht ist es einfach nur die Kurzform von „Frauen können keine deutschen Männerfernsehkrimis“, was zugegebenermaßen etwas hölzern klingt. Aber ein Quäntchen Wahrheit enthält. Die Redakteurinnen, die lieber Autoren engagieren für ihre Fernsehkrimis sind vielleicht so an die deutsche TATORT & Co Male Gaze-Krimis gewöhnt, dass sie gar nichts anderes mehr wollen oder gelten lassen.

Es ist ein bisschen wie mein Nudelbeispiel: wenn Leute immer nur Pasta essen und keine anderen Beilagen kennen, stehen für sie Spaghetti, Bandnudeln, Ravioli oder Tagliatelle für Vielfalt und Abwechslung. Und wenn ihnen jemand ein Reisgericht vorsetzt sagen sie „Das sind aber schlechte Nudeln.“

Und ja es gibt sie, die erfolgreichen Krimiautorinnen. Ich empfehle drei ältere britische Fernseheserien SCOTT & BAILEY, geschrieben von Sally Wainwright, PRIME SUSPECT von Lynda La Plante und RIVER von Abi Morgan (und viele neuere gibt es auch). Und stellvertretend für unzählige Kriminalromanautorinnen nenne ich Agatha Christie (Warum wird ihr belgischer Detektiv Hercule Poirot in den Verfilmungen eigentlich nie mit einem Belgier besetzt? Anderes Thema), Leena Lehtolainen und Natsuo Kirino. Klar können Frauen gute Krimis schreiben.

Bloß weil eine bestimmte Art von Fernsehkrimis die Norm geworden ist muss das nicht so bleiben. Es spricht sogar sehr viel dagegen. (Siehe auch u.a. Starke Frau, Auf die Fresse!)

Das deutsche TV ist viel zu krimilastig und das Angebot wird immer größer, da leider Streamingdienste davon gehört haben, dass das das Genre ist, was in Deutschland geguckt wird und sie wollen jetzt auch (noch mehr) Krimis produzieren. Wie schade! Was ist dann noch der Unterschied zum ÖR? Aber das ist ein anderes Thema.

Und um den Bogen zur Rede von Michail Lurje zu schlagen: Beurteilt eine Geschichte nicht nach der Identität der Autor:innen, sondern danach, ob sie gut ist. Und gut heißt nicht „so wie wir es seit Jahren schon kennen“.

Sie können das!

Sie konnten es – Michail Lurje und Jurij Saule haben nach Meinung der Jury ein ganz tolles Drehbuch geschrieben. (ich kenne es leider nicht und muss wohl warten, bis der Film ins Kino kommt).

Lieber Michail Lurje und lieber Jurij Saule (der mit Abstand am coolsten angezogene Mensch am Abend der Preisverleihung): viel Glück und Erfolg für MARTIN LIEST DEN KORAN! Und für das Folgeprojekt alles Gute. Wenn ich mir was wünschen darf, bitte keinen Krimi.