SchspIN

Gedanken einer Schauspielerin

Alte Frauen. Sichtbarkeit. Teil I

Gestern stand ich an der Kasse in einem Biosupermarkt. Die Kassiererin fragte die Kundin vor mir, ob sie einen Studiausweis hätte, – damit gab es wohl Rabatt. Die Frau geriet völlig aus dem Häuschen, so sehr freute sie sich, dass sie für eine Studentin gehalten worden war. Sie trug natürlich eine Maske und auch eine Mütze, aber u.a. von den Augen her hätte ich sie locker auf Ende 30, Anfang 40 geschätzt. Egal. Sie strahlte: „Das ist das Schönste, was ich heute erleben werde!“ Es war 10:45 Uhr. Was für Aussichten.

Kaum jemand will alt sein, Menschen werden 60 Jahre jung, alt ist ein Schimpfwort geworden. Wobei, nicht immer, ich denke da an „Was geht ab, Alter?“ – ursprünglich aus der Jugendsprache. Alter im Wechsel mit Dicker / Digger oft auch als eine Art Interpunktion der gesprochenen Sprache. Alte und Dicke hab ich so hingegen noch nie gehört. Ihr vielleicht?

Alte Frauen, sichtbar. In Film und Fernsehen.

Für jünger gehalten zu werden ist für Viele enorm wichtig. Nicht nur für Frauen übrigens, aber besonders für sie, denn der Jugendwahn mit allem was optisch dazugehört, teils von der Gesellschaft, teils von den Medien vorgeben, hinterlässt seine Spuren. Die Hamburger Initiative Pink Stinks („Magazin, Kampagnenbüro und eine Bildungsorganisation gegen Sexismus.“) thematisiert seit Jahren den Zusammenhang zwischen einem Format wie GERMANY‘S NEXT TOP MODEL und Schlankheitswahn bis hin zu Bulimie unter jungen Zuschauerinnen.

Alter und ewige Jugend sind auch Themen in der Film- und Fernsehbranche. Ist eine – prominente – Schauspielerin über 50 oder 60 oder 70 wird immer wieder betont, dass sie mindestens zehn, wenn nicht gar zwanzig Jahre jünger aussieht. Prominente ältere Schauspielerinnen spielen deutlich jüngere Rollen (z.B. mit 53 Jahren noch eine Schwangere), was – wenn man nicht ihr Alter kennen würde – oft auch durchgehen könnte, denn sie arbeiten an ihrem Äußeren und / oder lassen daran arbeiten und sehen enorm aus. Wenn ältere Schauspielerinnen wie Iris Berben, Senta Berger oder Hannelore Elsner mal in einer Rolle ein graues Haar zeigten, wurde es als besondere Leistung hervorgehoben.

Die Anfertigung unserer Bewerbungsfotos / Headshots ist nicht billig und eine große Sache, vorher und zwischendurch wird frisiert und geschminkt und hinterher retuschiert. (ich bin schon so lange Schauspielerin dass ich mich noch an Shootings erinnere, bei denen keine Maskenbildnerin dabei war…)

Schauspielerinnen sind überwiegend sehr fit, schlank bis sehr schlank, – Marlene Dietrich wird das Zitat zugeschrieben: „Schauspielerin sein bedeutet, immer hungrig von der Tafel aufzustehen.“ Sie sind schlank und faltenlos, und das bleibt überwiegend auch so, wenn sie altern. Anders als Frauen außerhalb der Schauspielbranche. Und Männer. Normalerweise legen mit dem Alter alle ein bisschen um die Hüften zu zu, Tränensäcke werden deutlicher, die Kinnpartie weicher, die Stimme dunkler, Haare weißer und dünner. Das kann bei Frauen mit den Wechseljahren zusammenhängen, aber auch einfach bei allen mit dem veränderten Stoffwechsel – wir brauchen weniger Nahrung, d.h. wenn wir genauso viel essen wie vorher nehmen wir zu, oder mit verändertem Lebensstil oder sonst was.

Nicht so Schauspielerinnen. Wenn sie schon älter werden müssen, dann wenigstens nicht sichtbar. Im doppelten Sinne. Sie sehen 1. nicht so aus wie ,normale Frauen‘, die altern. Aber sie kommen 2. trotzdem deutlich weniger vor als ihre gleichaltrigen, oft deutlich älter aussehenden und mitunter deutlich fülligeren Kollegen. Und ein 3. gibt es auch noch: obwohl Schauspielerinnen jung und jünger aussehen, werden weibliche Rollen gerne auch noch jünger besetzt, eine 40-Jährige wird von einer 30- bis 35-Jährigen gespielt usw. usf.

Und wenn in deutschen Fernsehfilmen mal ältere Frauen mit im Zentrum stehen sind sie oft unrealistisch gezeichnet, sie leben in wohlsituierten Verhältnissen, in schicken Häusern oder Villen, sind teuer und modisch und immer sauber und knitterfrei gekleidet. Als eine der wenigen Ausnahmen fällt mir spontan gerade nur Barbara Morawiecz als sehr berührende Frau Wernicke in dem Berlin-Tatort HITCHCOCK UND FRAU WERNICKE (2010) ein. Sie ist Rentnerin und lebt in einer Mietwohnung. Morawiecz war bei den Dreharbeiten 71 Jahre alt.

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird ja leider immer noch sehr stark mit dem angeblichen Publikumswillen – belegt durch diese „Einschaltquoten“ – argumentiert. Und es wird interpretiert, wen die Zuschauer:innen angeblich sehen wollen und was nicht. Ich finde das einen falschen und sogar gefährlichen Ansatz, aber das ist ein Thema für einen anderen Tag.

Über all dies habe ich schon etliche Male geschrieben:

SchspIN und die Altersforschung

Schauspielerinnen, die die 40 überschreiten, haben weniger Arbeitsmöglichkeiten (in Film, TV und Stream) als ihre Kollegen, einfach weil es so viel weniger Rollen für sie gibt. Und auch als Synchronsprecherinnen, denn das ist nicht nur in Deutschland so (Stichwort ageism).

Diese Berufsrealität, von dem ich auch betroffen bin, war 2013 mit Auslöser für meine Analysen und für dieses Blog, ich habe sie immer wieder mit Stichproben untersucht und auch sonst über Altersphänomene bei Frauen und Männern vor der Kamera geschrieben. Hier eine Artikelauswahl:

Regie und Alter

Im genannten Artikel vom 28.8.20 war es am Rande thematisiert: Altersdiskriminierung kann auch andere Filmfrauen betreffen, Autorinnen, Kamerafrauen, Kostümbildnerinnen und und und, auch Regisseurinnen. Ich hatte das Alter der TATORT-Regisseur:innen im ersten Halbjahr 2020 ausgewertet. Hier als Update das ganze Jahr, die Altersverteilung der 16 Regisseurinnen und 20 Regisseure der 36 erstausgestrahlten TATORTE:

Die Altersverteilung der 16 Regisseurinnen und 20 Regisseure von 2020 erstausgestrahlten Tatorten

Auffällig sind die vielen relativ jungen Regisseurinnen, viele mit ihrem ersten TATORT, 56 % sind unter 45. Werden sie über die Jahrzehnte weiter in diesem Format arbeiten? Und warum werden aktuell so wenige ältere – fernsehfilmerfahrene! – Regisseurinnen engagiert? Nur drei Frauen (19 % aller Regisseurinnen) waren über 50, im Gegensatz zu acht Männern (40 % aller Regisseure). Der älteste Mann 70, die älteste Frau 62. Das ergibt keinen vernünftigen Sinn. Interessant wären an dieser Stelle auch noch die Gagen der Regisseur:innen, aber zum einen sprengt das das Thema, und zum anderen sind sie nicht öffentlich zugänglich.

Zum Stichwort Regie und Alter noch dieser Gedanke: Regisseur und Drehbuchautor Christian Petzold (*1960) hatte von 2003 bis 2014 mit Nina Hoss (*1975) als weibliche Hauptfigur mehrere sehr erfolgreiche Kinofilme geschrieben und inszeniert. Seit 2018 spielt Paula Beer (*1995) seine weiblichen Hauptrollen. Gibt es den umgekehrten Fall, einen Künstler, dessen Protagonistinnen, dessen Musen älter werden? Nicht mit ihm gemeinsam altern, sondern sprunghaft älter werden?

Sichtbarkeit, 47+

Professor Elizabeth Prommer (Institut für Medienforschung, Universität Rostock) hat mit ihren Mitarbeiterinnen Julia Stüwe und Juliane Wegner und ihrem Team gerade ein Update zur Studie „Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland” von 2017 vorgelegt: „Sichtbarkeit und Vielfalt: Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität“. Der 23-seitige Aufsatz und auch eine 30-seitige Präsentation vom 5. Oktober können auf der Institutsseite als PDF runtergeladen werden.

Prommer et al. weisen die weiterhin bestehende Altersdiskriminierung von Schauspielerinnen im deutschen Fernsehen u.a. in der Betrachtung gestaffelter Altersgruppen nach. Als positive Meldung bleibt am Rande festzuhalten, dass für die fiktionalen Fernsehformate der „zwei künstlichen Wochen“ der Untersuchung, die 2020 erstausgestrahlt oder produziert wurden, das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Hauptfiguren („Protagonist:innen“) fast ausgeglichen ist. Das gilt allerdings nicht für die Gesamtheit der Rollen.

Ausgelöst durch Prommers neueste Ergebnisse startete Palais F*luxx, Onlineportal für Frauen ab 47, eine Kampagne u.a. auf Instagram, mit dem Hashtag #sichtbarkeit47+. Sie posteten Portraits von Schauspielerinnen über 47 Jahren unter dem Heading Sie wollen wir sehen! Das ist eine sehr gute Idee. Es ist wichtig, sich für Schauspielerinnen über 47 stark zu machen, und sie alle, nee, wir alle haben mehr und bessere Rollen verdient.

Aber es wäre auch nicht schlecht, wenn die Kampagne mehr Frauen zeigen würde, die aussehen wie Frauen mit Mitte 40 und älter in unserer Gesellschaft. Vielleicht sind einige der #sichtbarkeit47+-Fotos schon sehr alt, oder stark retuschiert oder die Leute schönheitsoperiert. Oder sie haben einfach gute Gene. Ich will keine Kolleginnen kritisieren, ich kenne den Druck der in der Branche u.a. aussehensbezüglich auf Frauen liegt. Nur, wenn wir von Repräsentanz und Abbild der gesellschaftlichen Realität sprechen, was bringen dann mehr ältere Frauen im fiktionalen Fernsehen, die nicht ansatzweise aussehen wie Frauen ihres Alters da draußen?

Die nächsten beiden Bilder zeigen Dr. Angela Merkel, die vor ein paar Tagen ihre Entlassungsurkunde erhielt. Zuerst mit 51 Jahren kurz nach ihrer ersten Vereidigung als Bundeskanzlerin, und danach vor zwei Jahren mit 65, also quasi jeweils Altersgenossin einiger #sichtbarkeit47+ Schauspielerinnen:

Übrigens: das überzeugendste Foto der Kampagne auf Instagram war für mich ein Selfie mit Elizabeth Prommer (Jg. 65), Simone Glöcker (Jg. 67), und vermutlich Silke Burmester (Jg. 66) im Hintergrund. (ich weiß aber nicht, ob Ihr das auch ohne Insta-Account sehen könnt).

Sie sollten wir sehen

In den nächsten Tagen wird ein Anhang zu diesem Blogtext erscheinen mit dem Untertitel Solche Frauen sollten wir sehen. ich habe angefangen, Bilder zusammenzustellen von Frauen über 40, über 50, über 60, über 70. Viele sind Politikerinnen – es war gerade Wahl und außerdem gibt es von ihnen gemeinfreie Bilder in der Wikipedia – einige Künstlerinnen, einige Wissenschaftlerinnen, eine Handvoll Schauspielerinnen sind auch dabei. Da es teilweise offizielle Fotos sind wurden die Frauen natürlich auch geschminkt und die Bilder sicher auch bearbeitet, was ja völlig in Ordnung ist. Nur bekommt so Altersvielfalt mehr Inhalt als meist im deutschen fiktionalen Film und Fernsehen.

Das Ganze dauert aber noch ein bisschen, weil ich die Bilder auf einheitliche Größe bringen und außerdem die Rechteangaben ergänzen will. Dass Wikipedia nicht die stabilste Quelle ist habe ich mehrfach erwähnt. Ihr habt gerade das Bild von der 51-jährigen Angela Merkel gesehen. Wenn Ihr das Foto von wikipedia runterladet steht da File usw.usf., erstellt 1. Januar 2006. Auf dem Foto sieht man die Aufschrift auf dem Podest: Opening of the ESMT Campus, Berlin, February 3, 2006. Alles klar? 

Ergänzung 1.11.21: Hier nun der Folgetext mit den Fotos älterer Frauen, querbeet durch unsere Gesellschaft:
Alte Frauen. Sichtbarkeit. Teil II

Mit Krücke ist besser als gar nicht laufen

Ich habe ja u.a. gegen dem Missverhältnis von Frauen– und Männerrollen die Methode NEROPA Neutrale Rollen Parität erfunden (siehe auch die offizielle Webseite neropa.stieve.com). Wenn sie an fertigen Drehbücher angewandt wird – Hilfsfrage: „Muss diese Figur männlich sein?“) – führt sie über den Weg der neutralen Rollen dazu, dass vormals männliche Rollen zu weiblichen Rollen werden. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass es auf einmal mehr Frauenrollen mit Namen gibt und auch ältere Frauenrollen, denn beides gab es ja bei den Männerrollen. Frauen, die nicht im persönlichen Beziehungskontext zu einer Männerfigur stehen, als Ehefrau, Geliebte, Mutter oder Tochter. Noch besser ist es natürlich, das NEROPA-Prinzip schon in der Stoffentwicklung, beim Drehbuchschreiben anzuwenden, aber ein existierendes Drehbuch zu verbessern ist als es so männerlastig zu lassen wie es in den meisten Fällen war.

NEROPA Logo

Und auch der NEROPA-Feinschliff der beim Casting, bei der Besetzung zum Zuge kommt, hilft bei der Altersfrage. Denn hier lautet die Hilfsfrage „Muss diese Figur weiß, jung, gutaussehend, heterosexuell, makellos und schlank sein?“, und so können für Rollen ohne festgelegtes Alter auch ältere Schauspieler:innen vorgeschlagen werden.

„Und bitte!“ Mehr Schauspielerinnen ab 50 in Kino, Streaming und Fernsehen

Das Thema bleibt weiter heiß. Gestern fanden zwei virtuelle Veranstaltungen von Woman in Film & Television (WIFT Germany) und der Götz George Stiftung im Rahmen von HoF Plus der Hofer Filmtage statt. Vormittags ein Think Tank, Nachmittags ein Tacheles Panel. 

Das Logo von WIFT Germany

Eingeleitet wird die Vormittagsveranstaltung mit einem Kurzvortrag von Prof. Dr. Elizabeth Prommer, die die aktuellsten Zahlen aus der Neuauflage der Studie über audiovisuelle Diversität in Film und Fernsehen in Deutschland präsentiert. Anschließend setzen sich in mehreren Gesprächsrunden Vertreter*innen aus den Bereichen Produktion, Fernsehredaktion, Streamingredaktion, Schauspiel, Regie, Casting, PR und Förderung zusammen, darunter Leslie Malton (BFFS), Nina Haun (Casting), Lars Becker (Drehbuch/Regie), Frank Tönsmann (Redaktion, WDR), Zazie de Paris (Schauspiel), Ilknur Boyraz (Schauspiel), Anna Schöppe (HessenFilm), Adriana Altaras (Regie/ Schauspiel), Nadja Malkewitz (Produktion, RTL), Iris Wolfinger (Produktion, Warner.Bros) und Petra K. Wagner (Drehbuch/Regie). Es moderieren u.a. Knut Elstermann und Sandra Willmann. Es handelt sich um eine geschlossene Veranstaltung.

Am Nachmittag wird die Diskussion beim „Tacheles-Talk: Mehr Schauspielerinnen ab 50 in Film, Streaming und Fernsehen“ in einer anderen Runde fortgesetzt. Nach der Begrüßung durch Thorsten Schaumann (Hofer Filmtage), Marika George (Götz George Stiftung) und Catherine Lieser (WIFT Germany) kommen die Schauspielerinnen Adriana Alteras, Anke Sevenich, Anna Brüggemann und Simone Wagner unter der Moderation von Cornelia Köhler (WIFT) zu Wort.

Eine tolle Sache, auch, dass Vertreter:innen der Sender dabei waren. Zum Thinktank erscheint heute eine Pressemitteilung, in den nächsten Wochen folgt ein Positionspapier. Beides werde ich hier ergänzen. Der Mitschnitt des lebhaften 46-min. Nachmittagspanels kann hier! nach-gesehen werden.

Es ist auf jeden Fall viel in Bewegung. Und sehr positiv, dass sich viele verschiedene Initativen und Einzelpersonen aus und außerhalb der Branche sich dem Thema Sichtbarkeit von alten Frauen annehmen.

Zwei französische Sehtipps

Zum Schluss noch ein klassischer Filmtipp mit schönen Dialogen, auch zu Frauen- und Männeralter und altersgemischten Beziehungen: CACTUS FLOWER / DIE KAKTUSBLÜTE (1969) mit Ingrid Bergmann, basierend auf dem französischen Theaterstück FLEUR DE CACTUS von Pierre Barillet und Jean-Pierre Gredy.

Und eine tolle Serie aus Frankreich: DIX POUR CENT / CALL MY AGENT! nach einer Idee von Fanny Herrero (seit 2015 bislang vier Staffeln) mit Camille Cottin. Hier sind u.a. Alter, Aussehen und Karriere von Schauspielerinnen und auch Schauspielern immer wieder Thema.

Nachtrag:

Und dazu zwei Serien mit alten Frauen im Mittelpunkt, evt. noch im Original in der arte-mediathek:

  • Die israelische Serie HAMISHIM – 50 (1 Staffel, 8 Folgen (2019), im Zentrum die anfangs 49-jährige Alona (Ilanit Ben-Yakoov).
  • Die britische Sitcom MUM – Mama (3 Staffeln, 18 Folgen, 2016-19), im Zentrum die anfangs 59-jährige Cathy (Lesley Manville).

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